Schönes Chaos: Mein wundersames Leben (German Edition)
kontinuierlich erkannt wird, zuerst mit einem fraktalen oder multifraktalen Modell mathematisch zu untersuchen ist. Weil Rauheit überall zu finden ist, sind Fraktale überall präsent. Und sehr oft lassen sich auf Gebieten, die abgesehen von ihren geometrischen Strukturen völlig unabhängig zu sein scheinen, dieselben Methoden anwenden.
Fraktale gibt es seit jeher, und nun verfügen sie über eine Heimat
Die meiste Zeit über gab es keinen Ort, an dem die Dinge, die ich erforschen wollte, für irgendjemanden von Interesse waren. Folglich verbrachte ich einen großen Teil meines Lebens als ein Außenseiter, der von Gebiet zu Gebiet wanderte. Wenn ich nun zurückblicke, erkenne ich mit wehmütiger Freude, dass ich bei vielen Gelegenheiten meiner Zeit um zehn, zwanzig, vierzig oder gar fünfzig Jahre voraus war. Bis vor wenigen Jahren waren die Gegenstände in meiner Dissertation nicht modern, während sie heute sehr beliebt sind.
Ich bezeichne mich selbst als Fraktalisten. Es ist nicht mein Ehrgeiz gewesen, ein neues Gebiet zu erschaffen, aber ich hätte eine zusammenarbeitende Gruppe von Leuten mit Interessen, die meinen ähnelten, begrüßt, weil das die zerstörerische Tendenz zu immer enger definierten Gebieten gebrochen hätte. In diesem wesentlichen Punkt bin ich leider gescheitert. Ordnung ergibt sich nicht von selbst. In meiner Jugend war ich Student am Caltech, als Max Delbrück gerade die Molekularbiologie ins Leben rief – ich habe also erlebt, was es bedeutet, ein neues Gebiet zu erschaffen. Meine Arbeit hat dagegen nichts dergleichen bewirkt. Ein Grund liegt in meinem Charakter – ich strebe nicht nach Macht oder spiele damit herum. Ein zweiter waren die Umstände – ich arbeitete in einem Industrielabor, weil die akademische Welt mich als unpassend empfand. Abgesehen davon: Es wäre vielleicht außerhalb der Möglichkeiten eines jeden Einzelnen gelegen, enge, organisierte Verbindungen zwischen Tätigkeiten herzustellen, die ansonsten nichts miteinander zu tun haben.
Ich plante keine allgemeine Theorie der Rauheit, weil ich es vorziehe, von unten nach oben statt von oben nach unten zu arbeiten. Wenn ich also heute lange nach den Ereignissen zurückblicke, freue ich mich über diese enorme Einheit und betone sie in jeder neuen Publikation.
Es hat nichts mit Arroganz zu tun, wenn ich behaupte, dass Fraktale seit jeher abgebildet worden sind, ihre wahre Rolle dagegen unerkannt blieb und darauf wartete, von mir entdeckt zu werden.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Während mein Wanderleben dahinschwindet, denke ich weiterhin an den wilden Ehrgeiz, zu überleben und zu glänzen, der mich seit der Jugend angetrieben hat. Jeder Teilerfolg ließ wieder eine alte Erwartung oder ein altes Hungergefühl in mir aufsteigen. Ironischerweise habe ich es in meiner Forschung mit genau diesem Muster zu tun gehabt. Selbst in diesem späten Stadium leide ich, wenn ein bestimmtes Ereignis eine alte flüchtige Hoffnung aufweckt, die ich ungeprüft zurücklassen musste. Wie sagte doch George Bernard Shaw:
Der vernünftige Mensch passt sich an die Welt an; der unvernünftige versucht beständig, die Welt an sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab.
Dieses Zitat bekam ich erst spät im Leben zu sehen, und um dazu beizutragen, Wissen und Vernunft voranzubringen, bin ich die ganze Zeit hindurch recht unvernünftig gewesen.
Nun haben Sie meine Geschichte gehört. Erinnert nicht die Summe meiner persönlichen Erfahrungen in ihrer Verteilung an einen der zentralen Gegenstände meiner wissenschaftlichen Arbeit – nämlich an extreme fraktale Unebenheit? Alles in allem habe ich nur wenige Minuten der Langeweile erlebt. Es hat großen Spaß gemacht, und in gewissem Maß geht das immer noch weiter. Was hätte ich mehr verlangen können?
Um meinen Enkeln nahe zu sein, habe ich mein Amt in Yale aufgegeben, mein Büro bei IBM in der Nähe New Yorks geschlossen und die Leiden ertragen, aus einem großen Haus in eine Bostoner Wohnung umzuziehen. Wie ich stets gewusst habe, kann es vernünftig sein, seine Wurzeln zu kappen, aber erfreulich ist es nie.
© Benoît B. Mandelbrot Archives
© Benoît B. Mandelbrot Archives
Nachwort
Benoît Mandelbrot starb kurz vor dem Abschluss seiner Erinnerungen. Aliette, seine langjährige Ehefrau, bat mich, dieses Nachwort zu schreiben. Ich hoffe, ich kann eine etwas andere Perspektive darauf vermitteln, welche Position Benoîts Arbeit in den Welten
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