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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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konnte.
    Es muß auch gesagt werden, daß er dem Chef viele Wohltaten verdankte: die Dienstwohnung, das anständige Gehalt und die interessante Arbeit. Das Größte aber war die Obsorge für Sonja, seine arme schwachsinnige Schwester.Anissi konnte ruhigen Herzens zum Dienst gehen, denn sie wurde verpflegt und umhegt. Fandorins Haushälterin Palascha hatte Sonja ins Herz geschlossen und verwöhnte sie. Seit kurzem wohnte Palascha sogar bei den Tulpows. Für ein, zwei Stunden lief sie zu Angelina, um ihr im Haushalt zur Hand zu gehen, und kehrte dann zu Sonja zurück. Zum Glück war Anissis Wohnung ganz in der Nähe, in der Granatny-Gasse.
    Anissi begann mit seinem Rapport, holte weit aus:
    »Jegor Williamowitsch hat bei zwei Toten eindeutige Anzeichen postumer Verstümmelung entdeckt. Der Bettlerin Marja Kossaja, die unter ungeklärten Umständen am 11. Februar ums Leben kam, wurde die Kehle durchgeschnitten und die Bauchhöhle geöffnet, die Leber fehlt. Dem Straßenmädchen Alexandra Sotowa, erstochen am 5. Februar (vermutlich von dem Zuhälter Dsapojew), wurde auch die Kehle durchgeschnitten und der Bauch aufgeschlitzt. Bei einer dritten, der Zigeunerin Marfa Shemtschushnikowa, die am 10. März von einem unbekannten Täter getötet wurde, ist es fraglich: Die Kehle ist unversehrt, der Bauch kreuz und quer zerschnitten, aber die Organe sind alle an ihrem Platz.«
    Da blickte Anissi zufällig zur Seite und verstummte verwirrt. In der Tür stand, die Hand an die Brust gepreßt, Angelina und sah ihn mit vor Entsetzen geweiteten Augen an.
    »Mein Gott!« Sie bekreuzigte sich. »Anissi Pitirimowitsch, was erzählen Sie da für grauenhafte Sachen.«
    Der Chef drehte sich unzufrieden um.
    »Gelja, geh in dein Zimmer. Das ist nichts für deine O-Ohren. Ich habe mit Tulpow zu arbeiten.«
    Die schöne Frau ging widerspruchslos hinaus. Anissi warf seinem Chef einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie haben ja recht, Erast Petrowitsch, aber bitte etwas freundlicher. Angelinaist zwar nicht blaublütig und Ihnen nicht ebenbürtig, aber sie steckt jedes adlige Fräulein in die Tasche. Ein anderer Mann würde sich nicht scheuen, ein solches Kleinod zu heiraten. Er würde es als Glück ansehen.
    Aber laut sagte er nichts, das wagte er nicht.
    »Anzeichen von Geschlechtsverkehr?« fragte der Chef konzentriert, ohne auf Anissis Mimik zu achten.
    »Jegor Williamowitsch weiß es nicht genau. Die Erde ist zwar gefroren, aber immerhin ist viel Zeit vergangen. Doch wichtig ist etwas anderes!«
    Anissi machte eine effektvolle Pause und ging zum Wesentlichen über.
    Er erzählte, daß auf seine Anweisung hin die sogenannten Gräben geöffnet wurden – die Gemeinschaftsgräber für namenlose Tote. Insgesamt wurden siebzig Leichen untersucht. Neun Leichen, darunter auch eine männliche, wiesen Spuren von Verstümmelung auf. Das Bild glich dem vom heutigen Morgen: Jemand, der sich in Anatomie auskannte und über chirurgische Instrumente verfügte, hatte die Leichen geschändet.
    »Das Erstaunlichste, Chef, besteht darin, daß drei verstümmelte Leichen aus den vorjährigen Gräben stammen!« berichtete Anissi und fügte bescheiden hinzu: »Ich hatte für alle Fälle angeordnet, die November- und Dezembergräben zu öffnen.«
    Fandorin hatte seinem Gehilfen aufmerksam zugehört, aber jetzt sprang er vom Stuhl auf.
    »Dezember, November? Das ist unmöglich!«
    »Ich war auch empört. Was sagt man zu unserer Polizei? So viele Monate schon wütet eine Bestie in Moskau, und wir haben davon keine Ahnung! Solange Parias abgeschlachtetwerden, kümmert es die Polizei nicht – sie werden verscharrt und adieu. Wie Sie meinen, Chef, aber ich an Ihrer Stelle würde Jurowski und Ejchman eins auf den Hut geben.«
    Der Chef war verstimmt, und zwar gründlich.
    Er ging rasch im Zimmer auf und ab und murmelte: »Im Dezember, das k-kann nicht sein, und im November erst recht nicht! Zu der Zeit war er noch in London!«
    Anissi blinzelte verdattert, er begriff nicht, was London mit all dem zu tun hatte – sein Chef hatte ihn noch nicht mit der Ripper-Version vertraut gemacht.
    Errötend dachte Fandorin daran, daß er dem Fürsten Dolgorukoi auf die Äußerung, der Kollegienrat irre sich nur selten, einen gekränkten Blick zugeworfen hatte.
    Nun stellt sich heraus, daß Sie sich irren, Erast Petrowitsch, und wie Sie sich irren.
     
    Der gefaßte Entschluß ist verwirklicht. Gottes Vorsehung muß mir geholfen haben, ihn so schnell in die Tat umzusetzen.
    Den ganzen Tag

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