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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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gestrige Mitteilung, daß zwei verunstaltete Leichen vom Dezember stammen und eine vom November, ließ mich anfangs an meiner Version von der Übersiedlung des Rippers nach Moskau zweifeln.«
    Anissi nickte, denn inzwischen war er eingehend in die blutige Geschichte des britischen Monsters eingeweiht worden.
    »Als ich jedoch heute morgen meine Londoner Au-Aufzeichnungen durchsah, kam ich zu dem Schluß, daß ich mich von dieser Hypothese nicht verabschieden muß. Wollen Sie wissen, warum?«
    Anissi nickte wieder, denn er wußte, daß es jetzt seine Sache war, zu schweigen und nicht zu stören.
    Der Chef nahm seinen Notizblock vom Tisch.
    »Der letzte Mord, der dem berüchtigten Jack zugeschrieben wird, geschah am 20. Dezember auf der Poplar High Street. Zu der Zeit hatte unser Moskauer Ripper schon seine grausige A-Arbeit aufgenommen, was ausschließt, daß es sich bei dem englischen und dem russischen Mörder um dieselbe Person handelt. Doch bei der Prostituierten Rose Mylett, die in der Poplar High Street getötet wurde, war die Kehle nicht durchtrennt, und es fehlten die für Jack typischen Verstümmelungen. Die Polizei vermutete, daß der Mörder von späten Passanten gestört worden war. Ich dagegen neige im Licht der gestrigen Entdeckung zu der Annahme, daß der Ripper mit diesem M-Mord gar nichts zu tun hatte. Vielleicht hatte ein anderer die Frau getötet, aber in der allgemeinen Hysterie, die London nach den vorangegangenen Morden erfaßt hatte, wurde diese neuerliche Ermordung einer Prostituierten demselben Triebtäter zugeschrieben. Jetzt zu dem Mord, der sich am 9. November ereignete.«
    Fandorin blätterte eine Seite um.
    »Das ist zweifellos das Werk von Jack. Die Prostituierte Mary Jane Kelly wurde in der Dorset Street in ihrer Kammer gefunden, wo sie gewöhnlich ihre F-Freier empfing. Die Kehle war durchtrennt, die Brüste abgeschnitten, die inneren Organe ordentlich auf dem Bett ausgebreitet, der Magen geöffnet – man vermutete, daß der Mörder seinen Inhalt zu sich genommen hatte.«
    Anissi würgte es wieder wie auf dem Friedhof.
    »Auf der Schläfe war der uns von der Andrejitschkina bekannte blutige Lippenabdruck.«
    Fandorin unterbrach seine Überlegungen, denn ins Zimmer kam Angelina: in einem unauffälligen grauen Kleid, mit schwarzem Tuch, unter dem dunkelblonde Haarsträhnen hervorlugten, wahrscheinlich vom frischen Wind in die Stirn gepustet. Die Freundin des Chefs kleidete sich unterschiedlich, mitunter auch damenhaft, doch am liebsten trug sie schlichte russische Kleider wie das heutige.
    »Sie arbeiten? Störe ich?« fragte sie und lächelte müde.
    Tulpow sprang auf und beeilte sich zu sagen: »Aber nein, Angelina Samsonowna, wir freuen uns, Sie zu sehen.«
    »Ja, ja.« Fandorin nickte. »Du kommst aus dem Krankenhaus?«
    Die schöne Frau nahm das Tuch von den Schultern und steckte die widerspenstigen Haare auf.
    »Heute war es interessant. Doktor Blum hat uns beigebracht, Furunkel herauszuschneiden. Das ist überhaupt nicht schwer.«
    Anissi wußte, daß Angelina, die lichte Seele, regelmäßig in die Strohbinder-Klinik in der Mamonow-Gasse ging, um die Leiden der Kranken zu lindern. Anfangs brachte sie ihnen Geschenke, las ihnen aus der Bibel vor, dann war ihr das zuwenig. Sie wollte wirklich helfen, sich zur Krankenschwester ausbilden lassen. Fandorin versuchte es ihr auszureden, doch Angelina bestand darauf.
    Eine von den heiligen Frauen, auf denen ganz Rußland ruht: Gebet, Nächstenliebe und ein liebendes Herz. Dem Anschein nach lebte sie in Sünde, aber sie war frei von jeder Unreinheit. Schließlich war es nicht ihre Schuld, daß sie in wilder Ehe lebte. Wieder einmal zürnte Anissi seinem Chef.
    Fandorin runzelte die Stirn.
    »Du hast F-Furunkel herausgeschnitten?«
    »Ja.« Sie lächelte freudig. »Zwei alten Bettlerinnen. Heute ist doch Mittwoch, der Tag der kostenlosen Sprechstunde. Denken Sie nur, Erast Petrowitsch, es ist mir gut gelungen, und der Doktor hat mich gelobt. Ich habe schon viel gelernt. Und danach habe ich den alten Frauen das ›Buch Hiob‹ vorgelesen, zur seelischen Erbauung.«
    »Du hättest ihnen lieber Geld geben sollen«, sagte Fandorin gereizt. »Dein Buch und deine Fürsorge brauchen sie nicht.«
    Angelina antwortete: »Geld habe ich ihnen gegeben, jeder Frau ein Fünfundzwanzig-Kopekenstück. Und die Fürsorge ist für mich wichtiger als für sie. Ich lebe hier allzu glücklich mit Ihnen, Erast Petrowitsch. Das macht mir ein schlechtes Gewissen.

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