Schönheit der toten Mädchen
der Andrejitschkina keine Spuren von Geschlechtsverkehr gibt, wie sie für einen männlichen Triebtäter typisch wären.«
»Und wer ist der zweite?« fragte Angelina.
»Iwan Stenitsch. Dreißig Jahre alt, e-ehemaliger Student der medizinischen Fakultät der kaiserlichen Moskauer Universität. Vor sieben Jahren wegen ›Unsittlichkeit‹ ausgeschlossen. Weiß der Teufel, was das bedeutet, aber er paßt in unser Profil. Er hat ein paarmal den Beruf gewechselt, hat ein psychisches L-Leiden behandeln lassen, hat Europa bereist. Am 11. Dezember ist er von England nach Rußland zurückgekehrt. Seit Neujahr arbeitet er als Krankenpfleger in der Irrenanstalt ›Lindere meine Leiden‹.«
Anissi schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Verdammt verdächtig!«
»Also haben wir zwei V-Verdächtige. Wenn beide nichts mit der Sache zu tun haben, verfolgen wir die Linie, die Angelina Samsonowna vorgeschlagen hat, und überprüfen, ob der Ripper bei seiner Ankunft in Moskau dem Auge der Polizei entgehen konnte. Und erst, wenn wir auch das ausgeschlossen haben, werden wir nach einem einheimischen Wanja Ripper suchen, der nie in East End gewesen ist. Einverstanden?«
»Aber es ist derselbe Jack«, sagte Anissi überzeugt. »Alles stimmt überein.«
»Wen möchten Sie sich vorknöpfen, Tulpow, den Krankenpfleger oder die Hebamme?« fragte der Chef. »Ich überlasse Ihnen als Märtyrer der Exhumierung das Recht der Wahl.«
»Da Stenitsch in einem psychiatrischen Spital arbeitet, habe ich einen ausgezeichneten Vorwand, mich mit ihm bekannt zu machen – Sonja.« Das klang vernünftig, war aber weniger von kühler Logik diktiert als vielmehr vom Jagdfieber – immerhin kam ein Mann, noch dazu einer mit einem psychischen Defekt, eher als Ripper in Betracht als eine flüchtige Revolutionärin.
»Na gut«, sagte Fandorin lächelnd. »Sie fahren nach Lefortowo und ich nach Dewitschje Pole, zur Neswizkaja.«
Aber Anissi mußte sowohl den ehemaligen Studenten als auch die Hebamme aufsuchen, denn in diesem Moment klingelte es an der Tür.
Masa trat ein und meldete: »Post.« Und präzisierte genüßlich: »Ein Päcksen.«
Das »Päcksen« war nicht groß. Auf grauem Papier stand in hüpfender nachlässiger Schrift: »Hochwohlgeboren Kollegienrat Fandorin zu eigenen Händen. Dringend und streng geheim.«
Anissi wurde neugierig, aber der Chef öffnete das Päckchen nicht sofort.
»Hat das der B-Briefträger gebracht? Die Adresse fehlt.«
»Nein, hat ein Junge gegeben. Ist gleich weg. Soll ich ihm nach?« fragte Masa beunruhigt.
»Nein, den holst du nicht mehr ein.«
Unter der Verpackung kam ein Samtkästchen mit einem Atlasband zum Vorschein. In dem Kästchen war eine runde Lackpuderdose. In der Puderdose lag auf einer Serviette etwas Gelbes, Gewölbtes. Anissi hielt es im ersten Moment für einen Birkenreizker. Als er genauer hinsah, schrie er auf.
Ein Menschenohr.
Durch Moskau kriecht ein Gerücht:
In der Stadt geht ein Werwolf um. Sowie ein Weib nachts die Nase aus dem Haus steckt, ist der Werwolf zur Stelle. Er schleicht sich leise heran, funkelt mit roten Augen über den Zaun, und schon – wehe der christlichen Seele, die nicht rechtzeitig ein Gebet spricht – springt er herüber und schlägt als erstes die Zähne in die Kehle, dann reißt er den Bauch in Fetzen und labt sich an den Eingeweiden. Er hat wohl schon unzählige Frauen totgebissen, aber die Obrigkeit verheimlicht es vor dem Volk, aus Angst vor Väterchen Zar.
So habe ich es heute auf dem Sucharewka-Platz gehört.
Damit bin ich gemeint, ich bin der Werwolf, der hier umgeht. Lächerlich. Solche wie ich werden mit einer schrecklichen oder freudigen Botschaft gesandt. Ich, liebe Moskauer, wurde mit einer freudigen zu euch gesandt.
Häßliche Stadt und häßliche Menschen, ich mache euch schön. Alle werde ich nicht schaffen, seht es mir nach. Dazu reicht die Kraft nicht. Aber viele, viele.
Ich liebe euch mit all euren Scheußlichkeiten und Häßlichkeiten. Ich wünsche euch alles Gute. Ich habe genug Liebe für alle. Ich sehe die Schönheit unter den verlausten Kleidern, unter dem Schorf des ungewaschenen Körpers, unter Krätze und Ausschlag. Ich bin euer Erlöser, ich bin eure Erlöserin. Ich bin euch Bruder und Schwester, Vater und Mutter, Gatte und Gattin. Ich bin Mann und Frau. Ich bin androgyn, wie jener herrliche Urahn der Menschheit, der über die Merkmale beider Geschlechter verfügte. Später teilten sich die Androgyne in eine männliche
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