Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
Vom Netzwerk:
Gesicht, reiße die Augen auf und starre stundenlang hinein.
    Die Erzählung geriet lang. Zweimal kam ein Mann in weißem Kittel ins Zimmer. Zuerst brachte er sterile Spritzen, dann holte er ein Rezept für die Anfertigung einer Tinktur. Der Arzt siezte ihn und sprach ihn mit »Iwan Rodionowitsch« an. Das mußte Stenitsch sein. Er war ausgemergelt und blaß, hatte riesige Augen, langes storres Haar und einen ausrasierten Bart, was seinem Gesicht etwas Mittelalterliches verlieh.
    Anissi überließ Sonja dem Arzt zur Untersuchung und ging auf den Korridor. Er sah eine etwas offenstehende Tür mit dem Schild »Behandlungszimmer« und schaute hinein.Stenitsch stand mit dem Rücken zu ihm und rührte eine grüne Brühe zusammen. Was kann man von hinten schon sehen? Gebeugte Schultern, Kittel, an den Hacken geflickte Stiefel.
    Der Chef hatte ihn gelehrt: Das Wichtigste bei einem Gespräch ist der erste Satz, in ihm liegt der Schlüssel. Wenn man das Richtige getroffen hat, öffnet sich die Tür, und man erfährt alles von dem Menschen. Man muß nur vorher den Typ richtig bestimmen. Laut Fandorin gibt es insgesamt sechzehn Typen, und jeder erfordert ein anderes Herangehen.
    Ach, bloß nicht danebenhauen. Anissi fühlte sich nicht sattelfest in dieser spitzfindigen Wissenschaft.
    Nach dem, was über Stenitsch bekannt war, und nach dem optischen Eindruck zu schließen, war er eine »Schildkröte«: ein verschlossener, mißtrauischer, introvertierter Mensch, der im Zustand eines unaufhörlichen inneren Monologs lebte.
    Wenn das stimmte, war das richtige Herangehen »Bauch zeigen«, das heißt, die eigene Schutzlosigkeit und Ungefährlichkeit demonstrieren, um dann ohne Übergang alle Schutzschichten des Argwohns zu durchbrechen, dabei aber, Gott behüte, nicht durch Grobheit erschrecken, sondern Interesse wecken, ein Signal aussenden. In dem Sinne, wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, sprechen dieselbe Sprache.
    Tulpow bekreuzigte sich in Gedanken und legte los:
    »Schön, wie Sie da vorhin im Zimmer meine Schwester angeschaut haben. Das hat mir gefallen. Mit Interesse, aber ohne Mitleid. Da ist Ihr Arzt das ganze Gegenteil – Mitleid hat er, doch kein Interesse. Dabei muß man die Menschen, die arm im Geiste sind, nicht bemitleiden, sie sind mitunter glücklicher als unsereins. Und sie haben Interessantes zu bieten. Äußerlich scheinbar ein Wesen wie wir, aber in Wirklichkeitganz anders. Einem Schwachsinnigen erschließen sich manchmal Dinge, die uns verschlossen sind. Sie denken doch auch so, nicht wahr? Ich sehe es an Ihren Augen. Sie sollten Doktor sein, und nicht dieser Rosenfeld. Sie sind Student, oder?«
    Stenitsch drehte sich um und machte große Augen. Dieser »Durchbruch« hatte ihn wohl einigermaßen verblüfft, aber im guten Sinne, er hatte keine Angst, zeigte keine Krallen. Er antwortete, wie es sich für einen Menschen vom Typ »Schildkröte« gehörte, kurz und knapp: »Ehemaliger.«
    Das Herangehen war richtig gewählt. Nun, da der Schlüssel paßte, mußte Anissi ihn entsprechend der Wissenschaft seines Chefs sofort umdrehen und das Schloß aufschnappen lassen. Aber da war eine Feinheit zu beachten: Eine »Schildkröte« vertrug keine Familiarität, die Distanz mußte gewahrt werden, sonst zog sie sich in ihren Panzer zurück.
    »Etwa ein Politischer?« Anissi spielte Enttäuschung. »Dann versteh ich mich doch nicht auf Gesichter. Ich habe Sie für einen vernünftigen Menschen gehalten und wollte Sie wegen meiner Schwester um Rat fragen … Ihr Sozialisten taugt nicht als Psychiater, ihr redet viel vom Wohl der Gesellschaft, aber die einzelnen Vertreter der Gesellschaft sind euch schnuppe, erst recht so ein armes Wesen wie meine Sonja. Verzeihen Sie meine Offenheit, aber ich bin nun mal geradezu. Leben Sie wohl, ich werde mich wohl besser mit Rosenfeld unterhalten.«
    Und er wandte sich zum Gehen, wie es sich gehörte für den Typ »Setter« (offen, impulsiv, absolut in seinen Sympathien und Antipathien) – ein idealer Partner für die »Schildkröte«.
    »Wie Sie meinen«, sagte der im Innersten getroffene Pfleger. »Aber um das Wohl der Gesellschaft habe ich mich nie gekümmert, und von der Fakultät bin ich wegen einer ganz anderen Sache geflogen.«
    »Ach so!« rief Anissi und hob triumphierend den Finger. »Ich habe Sie also doch richtig eingeschätzt. Sie leben nach Ihren Vorstellungen und gehen Ihren eigenen Weg. Es tut nichts, daß Sie nur Feldscher sind, ich schaue nicht auf den Titel. Ich

Weitere Kostenlose Bücher