Schönheit der toten Mädchen
und eine weibliche Hälfte, und es entstanden die Menschen – unglückliche Wesen, weit entfernt von der Vollkommenheit, leidend an der Einsamkeit.
Ich bin die euch fehlende Hälfte. Nichts wird mich hindern, mich mit denen von euch zu vereinen, die ich auswähle.
Der Herr verlieh mir Verstand, Findigkeit, Voraussicht, Unverwundbarkeit. Stumpfe, grobe, aschgraue Menschen versuchten in London, mich zu fangen, ohne ergründen zu wollen, was für Botschaften ich der Welt sandte.
Anfangs amüsierten mich diese kläglichen Versuche. Dann überkam mich Bitterkeit.
Vielleicht wird der Prophet in seiner Heimat verstanden, dachte ich. Das irrationale, mystische Rußland, das noch nicht den wahren Glauben verloren hat, Rußland mit seinen Skopzen 1 , den Selbstverbrennungen der Raskolniki 2 und seinen Skimniks, diesen asketischen Mönchen, lockte mich – und betrog mich. Jetzt versuchen ebenso stumpfe, grobe und phantasielose Menschen den Dekorateur in Moskau zu fangen. Des Nachts schüttelt mich lautloses Gelächter. Niemand sieht diese Anfälle von Fröhlichkeit, und wenn jemand sie sähe, würde er denken, ich wäre nicht bei Sinnen. Das ist natürlich, halten sie doch jeden, der ihnen nicht gleicht, für verrückt. Aber dann ist auch Christus verrückt, desgleichen alle Heiligen und alle genialen Narren, auf die sie so stolz sind.
Am Tage unterscheide ich mich in nichts von den Unschönen, Kläglichen, Geschäftigen. Ich bin ein Virtuose der Mimikry; sie kommen nie auf die Idee, daß ich von anderer Art bin.
Wie können sie sich vor Gottes Gabe ekeln – dem eigenen Körper! Es ist meine Pflicht und meine Berufung, sie ein wenig zur Schönheit zu erziehen. Ich mache die schön, welche häßlich
sind. Die schön sind, rühre ich nicht an. Sie beleidigen nicht das Bild Gottes.
Das Leben ist ein spannendes, lustiges Spiel. Katz und Maus, hide-and-seek! 3 Ich bin die Katze und auch die Maus. I hide and I seek. 4 Eins, zwei, drei, vier, fünf, ich komme.
Wer sich nicht versteckt hat, ist selber schuld.
Schildkröte, Setter, Löwin, Häschen
5. April, Karmittwoch, am Tage
Anissi bat Palascha, Sonja schön anzuziehen, und die Schwester freute sich und quietschte. Für das Dummchen war jede Ausfahrt ein Ereignis, und ins Krankenhaus, zum »Doto« (was in Sonjas Sprache Doktor bedeutete), fuhr das arme Wesen besonders gern. Dort sprach man lange und geduldig mit ihr, schenkte ihr Konfekt oder einen Kringel, hielt ihr ein kühles Rohr an die Brust, drückte ihren Bauch, daß es kitzelte, schaute ihr interessiert in den Mund, und Sonja gab sich Mühe und sperrte ihn so weit auf, daß alles zu sehen war.
Der Kutscher Nasar wurde gerufen. Zuerst hatte Sonja wie üblich etwas Angst vor dem friedlichen Pferd Mucha, das schnaubend mit dem Geschirr klirrte und mit einem blutunterlaufenem Auge zu der dicken, ungefügen, in Tücher gewickelten Weibsperson schielte. So war das Ritual zwischen Mucha und Sonja.
Sie verließen die Granatny-Gasse in Richtung Lefortowo. Gewöhnlich fuhren sie nicht so weit, sondern zu dem Doktor in der Roshdestwenka, zur Gesellschaft für Gegenseitige Hilfe, aber nun mußten sie die ganze Stadt durchqueren.
Die Trubnaja mußten sie umfahren, denn sie war überflutet. Moskau sah düster und schmuddelig aus. Graue Häuser, schmutzige Bürgersteige, die Leute eingemummt, vom Wind gebeugt. Aber Sonja schien es zu gefallen. Manchmal stießsie dem Bruder den Ellbogen in die Seite: »Nissi, Nissi« und zeigte mit dem Finger auf Krähen auf einem Baum, auf ein Wasserfaß, auf einen betrunkenen Handwerker. Sie störte Anissi beim Nachdenken. Und nachdenken mußte er – über das abgeschnittene Ohr, mit dem sich der Chef persönlich beschäftigte, und über die eigene komplizierte Aufgabe.
Das Spital »Lindere meine Leiden«, das sich der Behandlung psychisch und nervlich Kranker widmete, befand sich auf dem Gospitalnaja-Platz, jenseits des Flusses Jausa. Anissi wußte, daß Stenitsch als Krankenpfleger bei Doktor Rosenfeld in der fünften Abteilung arbeitete, wo die Tobsüchtigen und die hoffnungslosen Fälle untergebracht waren.
Nachdem Anissi an der Kasse fünf Silberrubel bezahlt hatte, ging er mit seiner Schwester zu Rosenfeld. Er erzählte dem Arzt ausführlich von Sonjas Zuständen in der letzten Zeit: Sie wache nachts weinend auf, zweimal habe sie Palascha weggestoßen, was früher nie vorgekommen sei, und sie sei neuerdings ständig mit einem kleinen Spiegel zugange – halte ihn dicht vors
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