Schönheit der toten Mädchen
gehen. Was meinen Sie, womit ich mich den ganzen Vormittag beschäftigt habe, während Sie die Toten b-beunruhigten?«
Er nahm ein paar Blätter vom Tisch, die in Kanzleischrift vollgeschrieben waren.
»Ich habe die R-Reviervorsteher angerufen und gebeten, mir Mitteilung zu machen über jeden, der direkt aus England oder über eine Z-Zwischenstation nach Moskau gekommen ist. Ich habe nicht nur den November, sondern auch den Dezember angegeben, für den Fall, daß Rose Mylett doch von dem Ripper getötet wurde und Ihr Novemberfund die Tat eines hiesigen Verbrechers ist. Es ist schwer, eine genaue p-pathologischanatomische Begutachtung von einem Leichnam zu geben, der fünf Monate in der Erde gelegen hat, auch wenn sie gefroren war. Die zwei Leichen vom Dezember, das ist was anderes.«
»Das leuchtet mir ein«, stimmte Anissi zu. »Die Tote vom November war in der Tat … Jegor Williamowitsch wollte sie gar nicht untersuchen. Im November war die Erde noch nicht richtig gefroren, und die Leiche war verwest. Oh, verzeihen Sie, Angelina Samsonowna!« Anissi erschrak über seinen unnötigen Naturalismus, doch Angelina dachte nicht daran, in Ohnmacht zu fallen, ihre grauen Augen blickten noch genauso ernst und aufmerksam.
»Na sehen Sie. Aber selbst in z-zwei Monaten sind nur neununddreißig Personen aus England bei uns eingereist, Angelina Samsonowna und mich eingeschlossen. Aber uns beide werde ich mit Ihrer Erlaubnis außer a-acht lassen.« Fandorin lächelte. »Von den übrigen haben sich d-dreiundzwanzig nur kurz in Moskau aufgehalten und sind darum für uns ohne Interesse. Bleiben vierzehn, von denen nur drei eine Beziehung zur Medizin haben.«
»Aha!« rief Anissi kriegerisch.
»Als e-erster hat natürlich Doktor George Lindsay meine Aufmerksamkeit geweckt. Da die Gendarmerieverwaltung auf alle Ausländer ein Auge hat, war es ein leichtes, Angaben zu bekommen. Leider ist Mister Lindsay nicht unser Mann. Er hat sich vor seiner Ankunft in Moskau nur anderthalb Monate in seiner Heimat aufgehalten. Davor hat er in Indien g-gedient, weit weg vom Londoner East End. Ihm wurde eine Stelle im Katharinenkrankenhaus angeboten, darum ist er nach Moskau gekommen. Bleiben zwei, beide Russen. Ein Mann und eine Frau.«
»Eine Frau kann so etwas nicht getan haben«, sagte Angelina fest. »Freilich gibt es auch unter uns Scheusale, aber mit dem Messer Bäuche aufschlitzen, dazu gehört viel Kraft. Außerdem mögen wir Frauen kein Blut.«
»Hier geht es um ein besonderes Wesen, das keine Ähnlichkeit mit gewöhnlichen Menschen hat«, entgegnete Fandorin. »Es ist kein Mann und keine Frau, sondern etwas D-Drittes oder, um es volkstümlich auszudrücken, ein Unmensch. Frauen sind keineswegs auszuschließen. Es gibt unter ihnen auch sehr kräftige. Außerdem ist bei einer gewissen Routine im Umgang mit dem Skalpell keine besondere Kraft erforderlich. Da haben wir«, er warf einen Blick in die Liste, »die Hebamme Jelisaweta Neswizkaja, 28 Jahre alt, ledig, am 19. November über Sankt Petersburg nach Moskau gekommen. Eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Mit siebzehn in einer politischen Sache verhaftet, zwei Jahre Festung, danach Zwangsansiedlung im Gouvernement Archangelsk. Sie floh ins Ausland und a-absolvierte an der Universität Edinburgh ein Medizinstudium. Später ersuchte sie um die Erlaubnis, in die Heimat zurückzukehren. Sie ist zurückgekehrt. Ihr Antrag auf Anerkennung ihres Arztdiploms wird gegenwärtig vom Innenministerium geprüft. Einstweilen ist sie als Hebamme in der neueröffneten Morosow-Frauenklinik untergekommen. Sie steht unter geheimer Polizeiaufsicht. Agentenberichten zufolge hält die Neswizkaja, obwohl ihr Arzttitel noch nicht bestätigt ist, Sprechstunden für mittellose Patienten ab. Die Krankenhausleitung drückt ein Auge zu und ist insgeheim sogar z-zufrieden, denn wer hat schon Lust, sich mit Mittellosen abzugeben. Das sind die Angaben, wie wir über die Neswizkaja haben.«
»Zur Zeit der Londoner Verbrechen des Rippers befand sie sich in England, erstens«, resümierte Anissi. »Zur Zeit der Moskauer Verbrechen befand sie sich in Moskau, zweitens. Sie besitzt medizinische Kenntnisse, drittens. Nach allem zu urteilen, ist sie eine spezifische Persönlichkeit und zeichnetsich nicht gerade durch ein weibliches Wesen aus, viertens. Wir dürfen sie keinesfalls außer acht lassen.«
»Richtig. Au-außerdem dürfen wir nicht vergessen, daß es sowohl bei den Verbrechen in London wie auch bei dem Mord an
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