Schönheit der toten Mädchen
flüsternd das »Häschen«.
»Weil ich einen Studenten kannte, der in einem Haus verkehrte, in dem sich manchmal Revolutionäre trafen.« Die Ärztin lachte bitter auf. »Es hatte wieder einmal ein Attentat auf den Zaren gegeben, also kassierten sie uns alle. Bis sie alles aufgeklärt hatten, saß ich zwei Jahre in Einzelhaft. Und das mit siebzehn. Wieso ich nicht verrückt geworden bin, weiß ich nicht. Aber vielleicht bin ich’s ja auch … Dann ließen sie mich frei. Aber für alle Fälle, damit ich keine ungebührlichen Bekanntschaften knüpfte, verbannten sie mich in ein Dorf im Gouvernement Archangelsk. Dort stand ich unter Polizeiaufsicht. Nehmen Sie mir also mein Mißtrauen nicht übel. Ich habe eine besondere Beziehung zu blauen Uniformen.«
»Und wo haben Sie Medizin studiert?« fragte Anissi und schüttelte teilnahmsvoll den Kopf.
»Zuerst im Dorfkrankenhaus. Ich mußte ja von irgendwas leben, also wurde ich Krankenschwester. Ich begriff, daß Medizin das Richtige für mich ist. Wohl das einzige, was Sinn hat… Dann hat es mich nach Schottland verschlagen, und ich habe Medizin studiert. Ich machte als erste Frau eine chirurgische Ausbildung – dort haben es Frauen auch nicht so leicht – und wurde eine gute Chirurgin. Ich habe eine sichere Hand, kann Blut sehen und ekle mich nicht vor den menschlichen Eingeweiden. Sie besitzen sogar ihre eigene Schönheit.«
Anissi pirschte sich heran.
»Sie können also auch operieren?«
Sie lächelte herablassend: »Ich kann sogar Amputationen vornehmen und in der Bauchhöhle operieren. Aber statt dessen mache ich seit Monaten …« Sie winkte wütend ab.
Was machte sie »statt dessen«? Schnitt sie Straßenmädchen die Därme heraus?
Die vermutlichen Motive?
Anissi betrachtete verstohlen das unschöne, sogar grobe Gesicht der Ärztin. Krankhafter Haß auf den weiblichen Körper? Sehr gut möglich. Die Ursachen: eigene körperliche Reizlosigkeit, die persönliche Situation, die ungeliebte Arbeit als Hebamme, der tägliche Anblick von Patientinnen, deren Frauenschicksal sich glücklich gefügt hat. Das reicht doch. Nicht auszuschließen ist auch eine latente Geistestrübung als Folge des erlittenen Unrechts und der Einzelhaft in so jungen Jahren.
»Na schön, dann werde ich mal Ihre Schwester untersuchen. Genug geschwatzt. Das ist sonst gar nicht meine Art.«
Sie nahm den Zwicker ab, rieb sich mit ihren kräftigen Fingern müde die Nasenwurzel und massierte dann ihr Ohrläppchen. Anissi mußte natürlich sofort an das unheilvolle Ohr denken.
Wie mochte es inzwischen dem Chef ergangen sein? War es ihm gelungen, den Absender des »Päcksens« zu ermitteln?
Und wieder ist Abend. Gesegnete Finsternis, die mich mit ihrem braunen Flügel zudeckt. Ich gehe am Eisenbahndamm entlang. Eine merkwürdige Erregung beengt mir die Brust.
Erstaunlich, wie sehr mich der Anblick von Bekannten aus meinem früheren Leben aus der Bahn wirft. Sie haben sich verändert, einige bis zur Unkenntlichkeit, von mir ganz zu schweigen.
Erinnerungen kommen hoch. Dumme, unnötige. Jetzt ist alles anders.
Am Bahnübergang steht vor dem Schlagbaum eine kleine Bettlerin. Zwölf, dreizehn Jahre alt. Sie zittert vor Kälte, hat rauhe rote Hände, die Füße sind in schmutzige Lappen gewickelt. Ein grauenhaftes, wirklich grauenhaftes Gesicht: eiternde Augen, aufgeplatzte Lippen, triefende Nase. Ein unglückliches, mißratenes Menschenkind.
Eines solchen Wesens muß man sich doch erbarmen. Denn man kann auch dieses abstoßende Gesicht schön machen. Machen muß man eigentlich gar nichts. Es reicht, seine wahre Schönheit sichtbar werden zu lassen.
Ich folge dem Mädchen. Die Erinnerungen beunruhigen mich nicht mehr.
Studienfreunde
5. April, Karmittwoch, Tag und Abend
Nachdem Fandorin seinen Assistenten mit einem Auftrag weggeschickt hatte, bereitete er sich auf konzentriertes Nachdenken vor. Da ihm auch eine irrationale Erleuchtung gelegen käme, wollte er mit der Meditation beginnen.
Er schloß die Tür seines Arbeitszimmers, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Teppich und versuchte, sich aller Gedanken zu entledigen. Den Blick anzuhalten, das Gehör auszuschalten. Sich auf den Wellen der Großen Leere zu wiegen, aus der, wie schon mehrfach geschehen, der anfangs kaum hörbare, dann immer deutlicher werdende und schließlich ohrenbetäubende Laut der Wahrheit erklingen würde.
Die Zeit verging. Dann stand sie still. Dann gab es sie gar nicht mehr. Von innen, aus dem Bauch,
Weitere Kostenlose Bücher