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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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schmalen Finger fuhren krampfhaft über den Tisch. Auf dem Tisch aber stand unter anderem ein Stahltopf mit medizinischen Geräten. Anissi fiel ein, daß Stenitsch an einer psychischen Krankheit litt, und retirierte in den Korridor. Er würde ohnehin nichts Vernünftiges mehr zu hören bekommen.
    Aber einiges hatte er doch erfahren.
     
    Jetzt stand ihm ein weiter Weg bevor, von Lefortowo zum entgegengesetzten Ende, nach Dewitschje Pole, wo vor kurzem die mit Mitteln des Manufaktur-Rats Timofej Morosow gebaute und nach ihm benannte Frauenklinik eröffnet worden war. Sonja war immerhin auch eine Frau, da würden sich schon Frauenprobleme finden lassen. So kam es,daß das Dummchen der Untersuchung wieder nützlich sein konnte.
    Sonja war ganz aus dem Häuschen – der »Doto« aus Lefortowo hatte großen Eindruck auf sie gemacht.
    »Mitammer poch-poch, Nie hochsprung, nifürcht, akeinbon«, erzählte sie dem Bruder aufgelebt von ihren Erlebnissen.
    Für jeden anderen wäre es eine sinnlose Aneinanderreihung von Lauten gewesen, doch Anissi hatte alles verstanden: Der Doktor hatte mit einem kleinen Hammer auf das Knie geklopft, und das Knie war hochgesprungen, Sonja hatte sich nicht gefürchtet, aber der Doktor hatte ihr kein Bonbon gegeben.
    Damit sie ihn nicht beim Nachdenken störte, ließ er am Sirotski-Institut anhalten und kaufte einen großen giftroten Hahn am Stöckchen. Sonja wurde gleich still. Sie schob die Zunge gute fünf Zentimeter heraus, leckte an dem roten Hahn und guckte mit ihren weißlichen Äuglein nach links und rechts. Was sie heute alles erlebte! Am Abend würde man seine liebe Not mit ihr haben, bis sie zur Ruhe kam und einschlief.
    Endlich waren sie da. Eine schöne Klinik hatte der großzügige Manufaktur-Rat bauen lassen. Der Familie Morosow hatte die Stadt Moskau überhaupt viel Gutes zu verdanken. Erst kürzlich hatten die Zeitungen geschrieben, daß die Ehrenbürgerin Morosowa für junge Ingenieure Studienaufenthalte im Ausland gestiftet hatte, zur Vervollkommnung der praktischen Kenntnisse. Jetzt konnte jeder, der das Kaiserliche Moskauer Technikum abgeschlossen hatte, natürlich nur, so er rechtgläubig und gebürtiger Russe war, nach England oder auch in die Nordamerikanischen Staaten reisen.Eine große Sache. Und hier in der Frauenklinik wurde montags und dienstags für mittellose Frauen eine kostenlose Sprechstunde abgehalten. War das nicht fabelhaft?
    Heute war allerdings Mittwoch.
    Anissi las den Aushang im Empfangszimmer: »Konsultation beim Professor – zehn Rubel. Sprechstunde beim Doktor – fünf Rubel. Sprechstunde bei der Ärztin Fr. Roganowa – drei Rubel«.
    »Nicht billig«, beklagte sich Anissi bei dem Mann in der Anmeldung. »Meine Schwester ist schwachsinnig. Ist es da vielleicht billiger?«
    Der Mann antwortete zuerst unwirsch: »Nein. Kommen Sie am Montag oder Dienstag wieder.«
    Dann warf er einen Blick auf Sonja, die mit offenem Mund dastand, und wurde milder: »Gehen Sie in die Entbindungsstation, zu Jelisaweta Andrejewna. Sie ist eigentlich auch Ärztin, aber dem Titel nach bloß Hebamme. Die macht es billiger. Vielleicht nimmt sie auch gar nichts, wenn sie Mitleid hat.«
    Ausgezeichnet. Frau Neswizkaja war also da.
    Sie gingen durch einen kleinen Garten. Als sie sich dem einstöckigen gelben Gebäude der Entbindungsstation näherten, kam es zu einem Zwischenfall.
    Im ersten Stock wurde ein Fenster aufgestoßen, die Scheibe fiel klirrend zu Boden. Anissi sah, wie eine junge Frau, bloß im Nachthemd, aufs Fensterbrett kletterte, lange schwarze Haare umwehten die Schultern.
    »Geht weg, ihr Peiniger!« schrie die Frau gellend. »Ich hasse euch! Ihr wollt meinen Tod!«
    Sie blickte nach unten – es waren hohe Räume, und bis zur Erde war es weit –, preßte sich mit dem Rücken an dieSteinwand und tastete sich auf dem Sims entlang, vom Fenster weg. Sonja stand stocksteif, mit herunterhängender Unterlippe – so ein Schauspiel hatte sie noch nie gesehen.
    Aus dem Fenster schauten sofort mehrere Köpfe und redeten auf die Schwarzhaarige ein, keine Dummheiten zu machen, zurückzukommen.
    Man sah, daß die Frau nicht bei Sinnen war. Sie taumelte, und der Sims war schmal. Gleich würde sie fallen oder sich herunterstürzen. Der Schnee unten war getaut, die nackte Erde steinig, Eisenstäbe ragten heraus. Das bedeutete für die Frau den Tod oder schwere Verletzungen.
    Anissi blickte nach links, nach rechts. Die Leute starrten hinauf, alle hatten ratlose Mienen. Was

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