Schönheit der toten Mädchen
drittens hatte sie sich lange mit unbedecktem Kopf in der Kälte aufgehalten. Das war besonders wichtig. Mit unbedecktem Kopf, selbst in der kalten Jahreszeit, gingen vor allem Dirnen auf die Straße. Das war ja auch ein Merkmal ihres Gewerbes.
Sich auf die Lippe beißend, drehte Fandorin das Ohr, das er doch nicht einfach als Gegenstand betrachten konnte, mit der Pinzette um und untersuchte den Schnitt. Er stammte von einem außergewöhnlich scharfen Instrument. Kein Tropfen angetrocknetes Blut. Also war die Rotblonde zu dem Zeitpunkt, als das Ohr abgetrennt wurde, schon ein paar Stunden tot gewesen.
Woher kam die leichte Schwärzung an der Schnittstelle? Ah, vom Auftauen, das war’s! Die Leiche hatte in einem Eisschrank gelegen, darum der ideale Schnitt; als das Ohr abgetrennt wurde, war das Gewebe noch gefroren.
Die Leiche einer Prostituierten, die im Kühlraum aufbewahrt wurde? Wozu? Solche Frauen wurden gewöhnlich zum Boshedomka-Friedhof gefahren und dort verscharrt. Wennsie doch in den Kühlraum kamen, dann entweder im Leichenschauhaus der Medizinischen Fakultät, zu Unterrichtszwecken, oder im Leichenschauhaus der Gerichtsmedizin, zwecks polizeilicher Ermittlungen.
Jetzt das Interessanteste: Wer hatte das Ohr geschickt und weshalb?
Zuerst – weshalb.
Genau das hatte im vergangenen Jahr auch der Londoner Mörder getan. Er hatte Mr. Albert Lask, der das Komitee zur Ergreifung des Rippers leitete, eine halbe Niere der Prostituierten Catherine Eddowes geschickt, deren verstümmelter Körper am 30. September gefunden worden war.
Für Fandorin hatte dieses Bubenstück zwei Bedeutungen. Erstens war es eine Herausforderung, eine Demonstration der Überzeugung, straffrei zu bleiben. Etwa so: Wie sehr ihr euch auch anstrengt, ihr kriegt mich nicht. Aber es gab vielleicht noch eine zweite Ebene: das einem solchen Triebtäter innewohnende masochistische Verlangen, gefangen und bestraft zu werden. Wenn ihr, die Hüter der Gesellschaft, wirklich allmächtig und allgegenwärtig seid, wenn das Recht der Vater ist und ich sein schuldig gewordenes Kind bin, dann gebe ich euch den Schlüssel in die Hand, findet mich. Die Londoner Polizei konnte mit dem Schlüssel nichts anfangen.
Möglich war natürlich auch eine ganz andere Version: Das grausige Päckchen hatte nicht der Mörder geschickt, sondern ein zynischer Scherzbold, der in der tragischen Situation einen Anlaß für einen makabren Spaß sah. In London hatte die Polizei auch einen höhnischen Brief bekommen, unterschrieben mit »Jack the Ripper«; seitdem trug der Mörder diesen Namen. Die englischen Ermittler waren aber zu dem Schluß gekommen, daß es sich um eine Mystifikationhandelte, wahrscheinlich mußten sie ihren Mißerfolg bei der Suche nach dem Absender rechtfertigen.
Es lohnte nicht, sich die Arbeit zu erschweren, indem man sie verdoppelte. Im Moment war nicht wichtig, ob der Mörder das Ohr geschickt hatte, sondern wer es getan hatte. Vielleicht war es ja der Ripper. Der Moskauer Streich unterschied sich von dem Londoner allerdings durch einen wesentlichen Umstand: Von den Morden in East End hatte die ganze britische Hauptstadt gewußt, und es konnte sich eigentlich jeder einen »Spaß« erlauben. Im vorliegenden Fall aber waren die Einzelheiten des gestrigen Verbrechens nur sehr wenigen Personen bekannt, selbst wenn man die nächsten Freunde und Verwandten hinzurechnete.
Also, was ließ sich über den Absender des »Päcksens« sagen?
Er war ein Mensch, der nicht das Gymnasium besucht hatte, aber eine ausreichende Bildung besaß, um Wörter wie »Hochwohlgeboren« und »Kollegienrat« fehlerfrei zu schreiben. Erstens.
Nach der Schachtel von Kusnezow und der Puderdose von Cluseret zu urteilen ein Mensch, der nicht zu den Armen gehörte. Zweitens.
Ein Mensch, der nicht nur über die Morde informiert war, sondern auch Fandorins Rolle bei der Ermittlung kannte. Drittens.
Ein Mensch, der Zugang zum Leichenschauhaus hatte, was den Kreis der Verdächtigen noch mehr einengte. Viertens.
Ein Mensch, der chirurgische Praktiken beherrschte. Fünftens.
Was noch?
»Masa, den Kutscher! Schnell!«
Sacharow kam aus dem Seziersaal, mit Lederschürze, die schwarzen Handschuhe voller braunem Schleim. Sein Gesicht war verquollen, verkatert, in einem Mundwinkel steckte die erloschene Pfeife.
»Ah, das Auge des Gouverneurs«, sagte er lässig statt einer Begrüßung. »Wurde noch jemand in Scheiben geschnitten?«
»Jegor Williamowitsch, wieviel L-Leichen
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