Schönheit der toten Mädchen
sollte er tun?
»Hol eine Plane oder wenigstens eine Decke!« schrie er einem Sanitäter zu, der zum Rauchen herausgekommen und mit der Zigarette im Mund erstarrt war. Jetzt kam er zu sich und stürzte los, aber er würde wohl kaum rechtzeitig wieder da sein.
Nun kletterte, die anderen beiseiteschiebend, eine hochgewachsene Frau aufs Fensterbrett. Weißer Kittel, Metallkneifer, die Haare im Nacken zu einem festen Knoten gesteckt.
»Jermolajewa, mach keinen Blödsinn!« rief sie im Befehlston. »Dein Sohn weint, er hat Hunger!«
Und dann stieg sie auch heraus auf den Sims.
»Das ist nicht mein Sohn!« kreischte die Schwarzhaarige. »Den habt ihr mir untergeschoben! Komm nicht näher! Ich habe Angst vor dir!«
Die Frau im weißen Kittel machte noch einen Schritt und streckte die Hand aus, aber die Jermolajewa drehte sich weg und sprang.
Die Zuschauer schrien auf – im letzten Moment konnte die Ärztin die Verrückte unterhalb des Kragens packen. Das Nachthemd knirschte, hielt aber. Die Beine der Herabhängenden wurden unschicklich entblößt, und Anissi mußte blinzeln, doch gleich darauf schämte er sich seiner unziemlichen Anwandlungen. Die Ärztin klammerte sich mit einer Hand an die Regenrinne und hielt mit der anderen die junge Frau fest. Gleich würde sie sie loslassen oder zusammen mit ihr herabstürzen!
Anissi riß sich den Mantel herunter und winkte zwei Männer heran. Zu dritt hielten sie den ausgebreiteten Mantel unter die Frau.
»Ich kann nicht mehr! Die Finger lösen sich!« rief die eiserne Ärztin, und im selben Augenblick fiel die Schwarzhaarige herab.
Der Aufprall warf die drei Männer um. Anissi sprang auf und schüttelte die gestauchten Handgelenke. Die Frau lag mit geschlossenen Augen, schien aber zu leben, Blut war nicht zu sehen. Einer von Anissis Helfern, dem Aussehen nach ein Handlungsgehilfe, saß auf der Erde und hielt sich wimmernd die Schulter. Schade um den Mantel – er hatte keine Ärmel mehr, und der Kragen war eingerissen. Ein neuer Mantel, erst im Herbst geschneidert, für 45 Silberrubel.
Die Ärztin war schon zur Stelle – wie sie das geschafft hatte! Sie hockte sich neben die Bewußtlose, fühlte den Puls, tastete Arme und Beine ab.
»Sie lebt und ist heil.«
Zu Anissi sagte sie: »Sehr geistesgegenwärtig von Ihnen, sie mit dem Mantel aufzufangen.«
»Was hat sie denn?« fragte er und schüttelte die Handgelenke.
»Kindbettfieber. Zeitweilige Bewußtseinstrübung. Kommt selten vor, aber manchmal doch. Und was ist mit dir?« wandte sie sich an den Handlungsgehilfen. »Ausgerenkt? Komm her.«
Sie griff mit ihren kräftigen Händen zu, ein kurzer Ruck, und der Handlungsgehilfe schrie leise auf.
Eine Pflegerin kam keuchend angelaufen und fragte: »Lisaweta Andrejewna, was machen wir mit ihr?«
»Einzelzimmer. Mit drei Decken zudecken, Morphium spritzen. Soll sie schlafen. Und laß sie nicht aus den Augen.«
Sie wandte sich zum Gehen.
»Ich wollte eigentlich zu Ihnen, Frau Neswizkaja«, sagte Anissi und dachte bei sich: Der Chef hat recht, auch Frauen als Verdächtige in Betracht zu ziehen. Ein solches Pferd ist nicht nur imstande, jemandem mit dem Skalpell die Kehle durchzuschneiden, sondern auch einen Menschen mit bloßen Händen zu erwürgen, ohne weiteres.
»Wer sind Sie? In welcher Angelegenheit?« Die Verdächtige sah ihn an. Der Blick hinter dem Kneifer war hart, überhaupt nicht weiblich.
»Tulpow, Gouvernementsekretär. Ich bin mit einer Kranken hier, um Ihren Rat einzuholen. Sie quält sich sehr mit der Periode. Würden Sie sie untersuchen?«
Die Ärztin blickte Sonja an und fragte sachlich: »Schwachsinnig? Hat sie ein Geschlechtsleben? Ist sie Ihre Beischläferin?«
»Erlauben Sie mal!« rief Anissi entsetzt. »Das ist meine Schwester. Sie ist von Geburt an so.«
»Können Sie bezahlen? Wenn ja, bekomme ich zwei Rubel für die Untersuchung.«
»Ich zahle mit dem größten Vergnügen«, beeilte sich Anissi zu versichern.
»So, so, warum gehen Sie dann nicht zum Doktor oder zum Professor? Na schön, kommen Sie mit.«
Sie ging mit raschen, ausgreifenden Schritten voraus, Anissi nahm Sonja bei der Hand und folgte ihr.
Sein weiteres Vorgehen überlegte er sich im Gehen.
Über den Typ gab es keinen Zweifel – eine klassische »Löwin«. Das empfohlene Herangehen – Verwirrung zeigen, Schüchternheit. Das stimmt die »Löwin« weicher.
Das Behandlungszimmer der Hebamme war klein, sauber, spartanisch eingerichtet: Untersuchungsliege, Tisch, Stuhl.
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