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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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stieg langsam kühle Ruhe nach oben, vor den Augen verdichtete sich goldfarbener Nebel, aber da ließ die riesige Standuhr in der Zimmerecke einen Schnarcher hören und begann dröhnend zu schlagen: bom-bom-bom-bom-bom!
    Fandorin kam zu sich. Schon fünf? Er verglich die Zeit auf seiner Breguet-Taschenuhr, denn er vertraute der Standuhr nicht ganz – und richtig, sie ging zwanzig Minuten vor.
    Sich ein zweites Mal in Meditation zu versetzen erwies sich als schwer. Ihm fiel ein, daß er um fünf Uhr am Wettkampf des Moskauer Velozipedisten-Klubs zugunsten armer Witwen und Waisen von Militärangehörigen teilnehmen sollte.In der Manege wetteiferten die besten Moskauer Sportler miteinander, darunter auch die Veloziped-Mannschaften des Grenadierkorps. Fandorin hatte keine schlechten Chancen, wie schon im vergangenen Jahr den Hauptpreis zu gewinnen.
    Aber ihm war gar nicht nach Wettkampf zumute.
    Er verscheuchte die unangebrachten Gedanken und betrachtete das blaßlila Tapetenmuster. Gleich würde sich der Nebel wieder verdichten, die gemalten Schwertlilien würden die Blüten öffnen und duften, und das Satori würde über ihn kommen.
    Etwas störte. Der Nebel wurde wie von einem Wind weggeweht, der von links kam. Dort auf dem Tisch lag in einer Lackdose das abgeschnittene Ohr. Es lag da und gab keine Ruhe.
    Fandorin konnte von klein auf nicht den Anblick verstümmelter Menschen ertragen. Dabei hatte er in seinem Leben schon alle möglichen Greuel gesehen, hatte an Kriegen teilgenommen, aber er hatte nicht gelernt, gleichgültig hinzunehmen, was die Menschen einander antaten.
    Als er begriff, daß die Schwertlilien auf den Tapeten heute nicht duften würden, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Da es ihm nicht gelungen war, die Intuition zu wecken, mußte er sich auf die Ratio verlassen.
    Also setzte er sich an den Tisch und nahm die Lupe zur Hand.
    Er begann mit dem Packpapier. Ganz gewöhnliches Papier, in das man alles einwickeln konnte. Kein Anhaltspunkt.
    Nun die Aufschrift. Große, ungleichmäßige Buchstaben mit nachlässigen Endlinien. Wenn man genauer hinguckte, sah man winzige Tintenspritzer – der Schreiber hatte starkaufgedrückt. Vermutlich ein Mann in den besten Jahren. Womöglich war er erregt oder betrunken gewesen. Nicht auszuschließen war aber auch eine Frau, die zu Affekten und Hysterie neigte. In diesem Zusammenhang waren die Häkchen am Buchstaben »O« und die koketten Schnörkel am »F« interessant.
    Das Wichtigste: An den Gymnasien wurde eine solche Schrift nicht gelehrt. Entweder war die Person von einem Hauslehrer unterrichtet worden, was eher auf eine Frau hindeutete, oder sie hatte überhaupt keine regelmäßige Ausbildung erhalten. Es gab aber keinen einzigen orthographischen Fehler. Hm, interessant. Zumindest war die Aufschrift ein Anhaltspunkt.
    Weiter – die Samtschachtel. Eine Verpackung für teure Broschen oder Manschettenknöpfe. Innen ein Monogramm: »A. Kusnezow, Kamergerski-Gasse«. Das gab nichts her. Ein großes Juweliergeschäft, eines der bekanntesten in Moskau. Man konnte natürlich Nachforschungen anstellen, aber das war wenig sinnvoll, denn von solchen Schachteln wurden pro Tag wahrscheinlich Dutzende verkauft.
    Das Atlasband – nichts Besonderes. Glatt, rot. Solche Bänder flechten sich Zigeunerinnen oder Kaufmannstöchter an Feiertagen in die Zöpfe.
    Die Dose (Puder »Cluseret« Nr. 6) betrachtete Fandorin mit der Lupe besonders aufmerksam, hielt sie nur am äußersten Rand fest. Er streute ein weißes Pulver, eine Art Talkum, darauf, und auf der glatten Lackoberfläche traten viele Fingerabdrücke hervor. Der Kollegienrat befeuchtete sie mit einem speziellen hauchdünnen Papier. Vor Gericht wurden Fingerabdrücke als Beweis nicht anerkannt, aber es konnte trotzdem nützlich sein.
    Erst jetzt widmete er sich dem armen Ohr. Als erstes versuchte er sich vorzustellen, daß es keinerlei Beziehung zu einem Menschen hatte. Es war einfach ein interessanter Gegenstand, der alles über sich erzählen wollte.
    Der Gegenstand erzählte ihm folgendes.
    Das Ohr hatte einer jungen Frau gehört. Nach den Sommersprossen auf beiden Seiten der Ohrmuschel zu urteilen, war sie rotblond gewesen. Das Ohrläppchen war durchstochen, aber sehr unsachgemäß: Das Loch war groß und länglich. Dieser Umstand und die wettergegerbte Haut sprachen erstens dafür, daß die ehemalige Besitzerin des Ohrs das Haar hochgesteckt getragen hatte; zweitens hatte sie keiner privilegierten Schicht angehört;

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