Schönheit der toten Mädchen
Graublaues aus der Bauchhöhle zog. Sacharow schluckte, und an seinem sehnigen Hals zuckte der Adamsapfel.
»Gestern abend waren Kommilitonen von früher hier. Wir haben auf den Jahrestag … eines denkwürdigen Ereignisses angestoßen. Sieben, acht Leute. Wir haben hier Sprit getrunken, wie in Studentenzeiten … Vielleicht habe ich ein Wort über die Ermittlung fallenlassen, ich erinnre mich nicht mehr. Es war gestern ein harter Tag, ich war müde und habe nicht viel vertragen …«
Er verstummte.
»Die dritte Frage«, erinnerte ihn Fandorin. »Wessen Schrift? Und lügen Sie nicht, daß Sie sie nicht erkennen. Es ist eine charakteristische Schrift.«
»Lügen ist nicht mein Fall«, knurrte Sacharow. »Und die Handschrift habe ich erkannt. Aber ich bin kein Denunziant, ich bin ein ehemaliger Student der Moskauer Universität. Finden Sie das selber heraus.«
Fandorin sagte feindselig: »Sie sind nicht nur ein ehemaliger Student, sondern zur Zeit auch Gerichtsarzt, und Sie haben einen Eid g-geleistet. Oder ist Ihnen entfallen, worum es bei der Ermittlung geht?« Mit leiser, völlig ausdrucksloser Stimme fuhr er fort: »Ich kann natürlich die Schrift aller Ihrer ehemaligen Kommilitonen überprüfen lassen, aber das dauert Wochen. Dann bleibt Ihre Korporationsehre gewahrt, aber ich werde dafür sorgen, daß Sie vor Gericht gestellt werden und das R-Recht verlieren, im Staatsdienst zu arbeiten. Sacharow, Sie kennen mich seit Jahren. Ich rede nichts in den Wind.«
Sacharow zuckte zusammen, die Pfeife rutschte im Mund hin und her.
»Ersparen Sie mir das, Herr Kollegienrat … Ich kann nicht. Dann gibt mir keiner mehr die Hand. Dann bin ich nicht nur im Staatsdienst erledigt, sondern auch als Mediziner. Das beste wäre …« Die gelbe Stirn des Arztes legte sich in Falten. »Wir feiern heute weiter. Um sieben treffen wir uns bei Burylin. Er hat das Studium nicht abgeschlossen, wie noch ein paar andere aus unserer Clique, aber von Zeit zu Zeit sehen wir uns. Ich bin mit meiner Arbeit hier gerade fertig, den Rest kann Grumow erledigen. Eigentlich wollte ich mich jetzt waschen, umziehen und losfahren. Ich habe gleich neben der Friedhofsverwaltung eine Dienstwohnung. Sehr bequem … Also, wenn es Ihnen konveniert, kann ich Sie zu Burylin mitnehmen. Ich weiß nicht, ob die von gestern alle kommen, aber der Mann, der Sie interessiert, wird bestimmt dort sein, da bin ich sicher … Entschuldigen Sie, aber das ist alles, was ich tun kann. Meine Ehre als Arzt.«
Die kläglichen Töne paßten gar nicht zu dem Pathologen. Fandorin dämpfte seinen Zorn und setzte Sacharow nicht weiter zu. Er schüttelte nur verwundert den Kopf über diese sonderbare Korporationsethik: Einen mutmaßlichen Mörder durfte man nicht angeben, sofern er ein ehemaliger Kommilitone war, aber einen Fahnder ins Haus eines Studienfreundes mitbringen – bitte sehr.
»Sie erschweren mir meine Au-Aufgabe, aber schön, meinetwegen. Es ist schon nach acht. Ziehen Sie sich um, und wir fahren.«
Während der Fahrt (und sie mußten weit fahren, bis zur Jakimanskaja) schwiegen sie die meiste Zeit. Sacharow war finsterer als eine Gewitterwolke und antwortete unwillig auf Fragen, dennoch entlockte ihm Fandorin einiges über den Gastgeber.
Er hieß Kusma Burylin. Fabrikant, Millionär, Abkömmling eines alten Kaufmannsgeschlechts. Sein Bruder, viele Jahre älter als er, hatte den Glauben der Skopzen angenommen. Er hatte die Sünde »abgeschnitten« 1 , hatte als Einsiedler gelebt und Kapital angehäuft. Als sein jüngerer Bruder vierzehn wurde, wollte er auch ihn »reinigen«, aber just am Vorabend der »großen Weihe« war Burylin der Ältere plötzlich und unerwartet verschieden, und der Halbwüchsige behielt nicht nur seine natürliche Unversehrtheit, sondern erbte auch noch ein gewaltiges Vermögen. Wie Sacharow giftig bemerkte, hatte die nachträgliche Angst um die wie durch ein Wunder erhalten gebliebene Männlichkeit das ganze weitere Leben Burylins geprägt. Er war dazu verdammt, sich sein Leben lang immer wieder zu beweisen, daß er kein Skopze war, was zu wilden Exzessen führte.
»Weshalb studiert so ein r-reicher Mann Medizin?« fragte Fandorin.
»Was hat Burylin nicht alles studiert, bei uns und im Ausland. Er ist neugierig, unbeständig. Ein Diplom braucht er nicht, darum hat er kein Studium abgeschlossen, und von der medizinischen Fakultät ist er geflogen.«
»Weshalb?«
»Da gab’s schon einen Grund«, antwortete der Arzt unbestimmt.
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