Schönheit der toten Mädchen
einer minderjährigen Person. So ein Unglück, so ein Unglück …«
Er schniefte und wurde rot, schämte sich wohl seiner Empfindsamkeit.
Anissi betrachtete den ungelenken Polizisten mit dem dünnen Hals und wußte alles über ihn. Nicht dumm, sentimental, liest wahrscheinlich gern. Ist aus Armut zur Polizei gegangen, doch dieser harte Dienst ist nichts für dieses Küken. Anissi erginge es genauso, hätte er nicht das Glück gehabt, Fandorin zu begegnen.
»Kommen Sie, Linkow«, sagte Anissi und siezte den Polizisten mit Bedacht. »Wir fahren gleich ins Leichenschauhaus, sie wird sowieso dorthin gebracht.«
Deduktion zahlte sich aus – er behielt recht. Nur eine halbe Stunde saß Anissi bei dem Friedhofswärter Pachomenko und plauderte mit diesem angenehmen Mann über Gott und die Welt, als drei Droschken vorfuhren, gefolgt von einer Kutsche ohne Fenster, der sogenannten Leichenfuhre.
Der ersten Droschke entstiegen Ishizyn und Sacharow, derzweiten der Photograph mit seinem Assistenten, der dritten zwei Gendarmen und der Reviervorsteher. Die Gendarmen öffneten die abgeschabten Türen der Kutsche und trugen auf einer Bahre etwas Kurzes heraus, zugedeckt mit einer Plane.
Der Gerichtsmediziner war mißgestimmt und kaute mit besonderer Erbitterung auf seiner Pfeife. Ishizyn hingegen sah frisch und munter aus, ja, beinahe freudig. Bei Anissis Anblick verzog er das Gesicht.
»Ach, Sie sind hier. Haben Sie es also schon gerochen? Ist Ihr Vorgesetzter auch da?«
Als er hörte, daß Fandorin nicht da war und auch nicht kommen würde und daß sein Assistent noch nichts Genaues wußte, war Ishizyn wieder obenauf.
»Also, jetzt kommt Zug in die Sache«, teilte er mit und rieb sich energisch die Hände. »Folgendermaßen. Heute im Morgengrauen haben Streckenwärter der Linie Moskau – Brest im Gebüsch beim Bahnübergang Nowo-Tichwinsk die Leiche einer minderjährigen Landstreicherin gefunden. Sacharow hat festgestellt, daß der Tod nicht später als Mitternacht eingetreten ist. Ich kann Ihnen sagen, Tulpow, es war ein unappetitlicher Anblick!« Er lachte kurz auf. »Stellen Sie sich vor, der Bauch ausgeweidet, ringsum an den Zweigen die Innereien aufgehängt. Und was das Gesicht betrifft …«
»Wieder ein blutiger Kuß?« rief Anissi aufgeregt.
Der Untersuchungsführer prustete und konnte gar nicht wieder aufhören zu lachen – offensichtlich die Nerven.
»Ach, Sie schaffen mich noch«, sagte er endlich und wischte sich die Tränen weg. »Dieser Kuß hat’s Fandorin und Ihnen aber angetan. Entschuldigen Sie schon meine unangebrachte Heiterkeit. Ich zeige sie Ihnen, dann werden Sie verstehen. He, Splakow! Warte! Zeig uns ihr Gesicht!«
Die Gendarmen stellten die Bahre auf die Erde und schlugen die Plane etwas zurück. Nach Ishizyns geheimnisvollen Worten war Anissi darauf gefaßt, etwas besonders Unangenehmes zu sehen: glasige Augen, eine fürchterliche Grimasse, eine hervorquellende Zunge, aber nichts dergleichen. Unter der Plane lag ein schwarz-roter Klumpen mit zwei weißen Bällen, die einen dunklen Punkt in der Mitte hatten.
»Was ist das?« fragte Tulpow, und seine Zähne schlugen ganz von selbst aufeinander.
»Diesmal hat unser Spaßvogel überhaupt kein Gesicht übriggelassen«, erklärte Ishizyn mit finsterer Heiterkeit. »Sacharow sagt, daß die Haut an der Haarlinie eingeschnitten und dann wie eine Apfelsinenschale abgezogen wurde. Da haben Sie Ihren Kuß. Vor allem ist er nicht mehr zu erkennen.«
Vor Anissis Augen verschwamm und drehte sich alles. Die Stimme des Untersuchungsführers drang wie aus weiter Ferne zu ihm.
»Mit der Heimlichtuerei ist es nun vorbei. Die dämlichen Streckenwärter haben alles ausgeplaudert. Einer wurde ohnmächtig abtransportiert. Aber schon vorher gingen Gerüchte in Moskau um. In der Gendarmerie häufen sich Anzeigen gegen den Mörder, der beschlossen habe, das weibliche Geschlecht mit Stumpf und Stiel auszurotten. Am frühen Morgen wurde in Petersburg Meldung erstattet, die volle Wahrheit gesagt. Der Minister persönlich wird uns beehren, Graf Tolstow. Tja. Dann werden wohl Köpfe rollen. Ich will meinen behalten, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ihr Vorgesetzter kann es ja mit Deduktion versuchen, er hat einen hochgestellten Gönner. Aber ich muß es ohne Deduktion schaffen, mit Entschlossenheit und Energie. Mit leerem Gerede ist es jetzt nicht mehr getan.«
Tulpow wandte sich von der Bahre ab, schluckte und verscheuchte den trüben Schleier vor seinen Augen.
Weitere Kostenlose Bücher