Schönheit der toten Mädchen
Ostergeschichte aus der Zeitung vorlas. Das Dummchen hörte gebannt, mit halboffenem Mund zu. Ob sie viel verstand, wer wollte das wissen.
»In der Provinzstadt N.«, las Palascha langsam, mit Gefühl, »entfloh im vergangenen Jahr am Tag der lichten Auferstehung Christi ein Verbrecher aus dem Gefängnis. Zu der Zeit, da alle Städter zur Frühmesse in den Kirchen waren, drang er in die Wohnung einer reichen und allseits geachteten alten Frau ein, die krankheitshalber der Messe fernbleiben mußte, mit der Absicht, sie zu töten und zu berauben.«
Sonja stöhnte auf. Sieh an, sie versteht es, dachte Anissi verwundert. Noch vor einem Jahr hätte sie es nicht verstanden, ihr wäre der Kopf auf die Brust gesunken, und sie wäre eingeschlafen.
»Genau in dem Augenblick, als der Mörder sich mit dem Beil in der Hand auf die Frau stürzen wollte«, die Vorleserinsenkte dramatisch die Stimme, »ertönte der erste Schlag der Osterglocke. Erfüllt vom Bewußtsein des erhabenen, feierlichen Augenblicks, drehte sich die alte Dame zu dem Verbrecher um und sprach den christlichen Gruß: ›Christ ist erstanden, guter Mann!‹ Diese Ansprache erschütterte den Elenden bis in die tiefsten Tiefen, sie erhellte ihm den ganzen Abgrund seiner Verworfenheit und führte einen sittlichen Umschwung herbei. Nach einem kurzen schweren inneren Kampf trat er zu der alten Frau, um mit ihr den Osterkuß zu tauschen, dann brach er in Tränen aus und …«
Wie die Geschichte ausging, erfuhr Anissi nicht mehr, denn er mußte los.
Fünf Minuten, nachdem er Hals über Kopf davongestürzt war, klopfte es an die Tür.
»Ach, der Wirrkopf«, seufzte Palascha. »Er hat bestimmt wieder die Waffe vergessen.«
Sie öffnete die Tür – nein, er war es nicht. Draußen war es dunkel, und sie konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, aber er war größer als Anissi.
Eine leise, freundliche Stimme sagte: »Guten Abend, meine Liebe. Ich will Sie erfreuen.«
Als alles Notwendige erledigt war – der Tatort besichtigt, die Leichen photographiert und weggeschafft, die Nachbarn befragt – und nichts mehr zu tun blieb, fühlte sich Fandorin ganz elend. Die Polizeiagenten waren gegangen, er saß allein in dem kleinen Wohnzimmer der bescheidenen Tulpowschen Wohnung, starrte auf die blutbespritzte geblümte Tapete und konnte das Zittern nicht bezwingen. In seinem Kopf war hallende Leere.
Vor einer Stunde war Fandorin nach Hause gekommen undhatte Masa sofort nach Anissi geschickt. Und da hatte Masa das Blutbad entdeckt.
Fandorin dachte jetzt nicht an die gutherzige, anhängliche Palascha, auch nicht an die sanfte Sonja Tulpowa, die einen schrecklichen, weder nach göttlichen noch nach menschlichen Begriffen zu rechtfertigenden Tod empfangen hatte. In seinem Kopf hämmerte immer nur der eine kurze Satz: Das überlebt er nicht, das überlebt er nicht, das überlebt er nicht. Nein, diese Erschütterung wird der arme Tulpow nicht überleben. Er muß zwar nicht den grauenhaften Anblick seiner verunstalteten Schwester ertragen, nicht ihre erstaunt aufgerissenen Augen, aber er kennt die Vorgehensweise des Mörders und kann sich leicht vorstellen, wie sie gestorben ist. Und das ist das Ende für Anissi Tulpow, denn ein normaler Mensch kann nicht weiterleben, wenn derartiges mit einem nahen, geliebten Menschen geschehen ist.
Fandorin befand sich in einem ungewohnten, ihm ganz wesensfremden Zustand – er wußte nicht, was er tun sollte.
Masa kam schnaufend mit einem zusammengerollten Teppich herein und breitete ihn auf dem befleckten Fußboden aus. Dann riß er ingrimmig die blutbespritzte Tapete ab. Das ist richtig, dachte Fandorin entrückt, wird aber wohl kaum helfen.
Noch eine Weile später kam Angelina. Sie legte Fandorin die Hand auf die Schulter und sagte: »Wer am Karfreitag den Märtyrertod empfängt, kommt ins Reich Gottes, an Christi Seite.«
»Das tröstet mich nicht«, sagte Fandorin monoton, ohne den Kopf zu wenden. »Und es wird auch Anissi nicht trösten.«
Wo steckte Anissi überhaupt? Es war nach Mitternacht,und der Junge hatte schon vergangene Nacht kein Auge zugetan. Masa hatte gesagt, Anissi sei ohne Mütze vorbeigekommen und habe es sehr eilig gehabt. Er hatte ihm nichts bestellt, auch keine schriftliche Nachricht hinterlassen.
Unwichtig, je später er kam, desto besser.
In Fandorins Kopf war Leere. Keine Vermutung, keine Version, kein Plan. Der arbeitsreiche Tag hatte wenig gebracht. Die Befragung der Agenten, die Neswizkaja,
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