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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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dreißig
    Ich berichte Euer Hochwohlgeboren, daß ich gestern abend bei der Erstellung der Liste von Personen, die der Verübung der Ihnen bekannten Verbrechen verdächtig sind, mit völliger Klarheit begriffen habe, daß die besagten Verbrechen nur ein Mensch begangen haben kann, und zwar der gerichtsmedizinische Experte Jegor Williamowitsch Sacharow.
    Er ist kein gewöhnlicher Mediziner, sondern Pathologe, das heißt, das Heraustrennen menschlicher Organe ist für ihn eine gewohnte und alltägliche Sache. Erstens.
    Der ständige Umgang mit Leichen hat in ihm eine unüberwindliche Abneigung gegen das ganze menschliche Geschlecht hervorgerufen oder aber, im Gegenteil, eine abartige Vorliebe für den physiologischen Bau des Organismus. Zweitens.
    Seinerzeit gehörte er einem »sadistischen« Kreis von Medizinstudenten an, was von früh zutage tretenden lasterhaften und grausamen Neigungen zeugt. Drittens.
    Sacharow wohnt in einer Dienstwohnung neben dem gerichtspolizeilichen Leichenschauhaus auf dem Boshedomka-Friedhof. Zwei Morde (an der Dirne Andrejitschkina und der namenlosen minderjährigen Bettlerin) wurden in der Nähe dieses Orts begangen. Viertens.
    Sacharow hält sich häufig bei Verwandten in England auf, so auch im vergangenen Jahr. Er kehrte aus Britannien am 31. Oktober zurück (nach europäischem Kalender am 11. November), das bedeutet, er kann den letzten der Londoner Morde durchaus begangen haben. Fünftens.
    Sacharow ist über den Gang der Ermittlung informiert, mehr noch, er ist von allen an der Untersuchung Beteiligten der einzige mit medizinischer Erfahrung. Sechstens.
    Ich könnte das noch weiter ausführen, aber das Atmen fällt mir schwer, und die Gedanken verwirren sich … Nun zu den letzten Ereignissen.
    Als ich Erast Petrowitsch nicht zu Hause antraf, wußte ich, daß ich keine Zeit verlieren durfte. Am Vortag war ich auf dem Friedhof gewesen und hatte mit den Arbeitern gesprochen, was Sacharow nicht verborgen bleiben konnte. Es war zu erwarten, daß er nervös wurde und sich durch irgend etwas verriet. Für alle Fälle nahm ich meine Waffe mit – den Revolver »Bulldogge«, den mir Herr Fandorin im vergangenen Jahr zum Namenstag geschenkt hatte. Das war ein herrlicher Tag, einer der schönsten in meinem Leben. Aber das gehört nicht zur Sache.
    Also, ich nahm eine Droschke und kam in der zehnten Stunde auf dem Boshedomka-Friedhof an, als es schon dunkel war. In dem Seitengebäude, das der Doktor bewohnt, brannte in einem Fenster Licht, und ich freute mich, daß Sacharow nicht das Weite gesucht hatte. Kein Mensch weit und breit, hinter der Umzäunung die Gräber, und keine einzige Laterne. Ein Hund schlug an, es war der Kettenhund bei der Kapelle, aber ich lief schnell über den Hof und preßte mich an die Wand. Der Köter kläffte noch ein paarmal und verstummte. Ich stellte eine Kiste unter das erleuchtete Fenster (es war sehr hoch) und äugte vorsichtig hinein, es war Sacharows Arbeitszimmer. Folgendes konnte ich sehen: Auf dem Tisch Papiere, eine Lampe brannte. Er selber saß mit dem Rücken zu mir und schrieb, zerriß das Blatt und warf die Fetzen auf den Boden. Ich stand lange da, mindestens eine Stunde, er schrieb und zerriß, schrieb und zerriß. Ich dachte, daß ich gern sehen würde, was er da schrieb. Und dann dachte ich: Ob ich ihn verhafte? Aber ich hatte keinen Haftbefehl, und womöglich schrieb er ja nur langweiliges Zeug, irgendwelche Rechnungen. Siebzehn Minuten nach zehn (ich sah es auf der Uhr) stand er auf und verließ das Zimmer. Es verging eine ganze Weile. Er polterte im Korridor, dann wurde es still. Ich zögerte, ob ich einsteigen und mir die Papiere ansehen sollte. Vor Aufregung büßte ich meine Wachsamkeit ein. Plötzlich spürte ich einen brennenden Stich im Rücken und stieß mit der Stirn gegen das Fensterbrett. Und als ich mich dann umdrehte, verbrannte es mir die Seite und die Hand. Da ich die ganze Zeit ins Licht geblickt hatte, konnte ich nicht sehen, wer da im Dunkel stand, aber ich schlug mit der linken Hand zu, wie ich es von Herrn Masa gelernt hatte, und dann noch mit dem Knie. Ich traf etwas Weiches. Leider bin ich kein gelehriger Schüler meines Lehrers gewesen. Aber nun wußte ich wenigstens, wohin Sacharow gegangen war, als er das Arbeitszimmer verließ. Er hatte mich offenbar bemerkt. Als er jetzt vor meinen Schlägen zurückwich und im Schatten verschwand, wollte ich ihn einholen, aber nach ein paar Schritten fiel ich hin. Ich stand auf und fiel

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