Schönheit der toten Mädchen
Stenitsch und Burylin observierten, und auch seine eigenen Beobachtungen hatten bestätigt, daß jeder der drei in der vergangenen Nacht die Möglichkeit gehabt hatte, sich zu entfernen und zurückzukehren, ohne daß die Agenten es bemerkt hätten.
Die Neswizkaja wohnte im Studentenwohnheim auf der Trubezkaja, das hatte vier Ein- und Ausgänge, und es herrschte bis zum Morgengrauen ein ständiges Kommen und Gehen.
Stenitsch hatte nach seinem Nervenzusammenbruch in der Klinik »Lindere meine Leiden« übernachtet, wo die Agenten keinen Zutritt hatten. Da überprüfe mal einer, ob er geschlafen hatte oder mit einem Skalpell durch die Stadt gestrichen war.
Bei Burylin sah es noch schlechter aus: Das Haus war riesig und hatte im Parterre über sechzig Fenster, von denen die Hälfte hinter den Bäumen des Parks nicht zu sehen war. Die Umzäunung war nicht hoch. Kein Haus, sondern ein Sieb.
Jeder von ihnen hätte Ishizyn umbringen können. Und das Schlimmste: Nachdem Fandorin von der Wirkungslosigkeit der Observierung überzeugt war, hatte er sie ganz aufgehoben. Somit hatten die drei Verdächtigen volle Handlungsfreiheit.
»Verzweifeln Sie nicht, Erast Petrowitsch«, sagte Angelina. »Das ist eine schwere Sünde, und Sie dürfen es schon garnicht. Wer soll den Mörder aufspüren, diesen Satan, wenn Sie die Hände sinken lassen? Das kann niemand außer Ihnen.«
Der Satan, dachte Fandorin träge. Der ist allgegenwärtig, schlüpft durch jede Ritze. Der Satan ändert sein Aussehen, nimmt jede Gestalt an, auch die eines Engels.
Engel. Angelina.
Das Gehirn, gewöhnt, logische Konstruktionen herzustellen, fügte sogleich dienstfertig eine Kette zusammen.
Kann nicht auch Angelina der Ripper sein?
Sie war im letzten Jahr in England gewesen. Erstens.
Abends, als all die Morde passierten, war sie in der Kirche gewesen. Angeblich. Zweitens.
Sie läßt sich in der barmherzigen Gemeinde zur Krankenschwester ausbilden und weiß schon eine Menge. Auch in Anatomie wird sie unterrichtet. Drittens.
Sie ist wundersam, ganz anders als die anderen Frauen. Und manches Mal blickt sie so, daß einem das Herz stehenbleibt, aber woran sie in solchen Minuten denkt, weiß man nicht. Viertens.
Ihr hätte Palascha die Tür geöffnet, ohne zu zögern. Fünftens.
Fandorin schüttelte ärgerlich den Kopf und stoppte die leeren Umdrehungen seiner außer Kontrolle geratenen logischen Maschine. Das Herz weigerte sich entschieden, eine solche Version zu erwägen. Ein Weiser hatte gesagt: »Ein edler Mann stellt die Argumente des Verstands nicht höher als die Stimme des Herzens.« Angelina hatte recht – niemand außer ihm konnte dem Ripper Einhalt gebieten, und es blieb nur noch ganz wenig Zeit. Nur noch der morgige Tag. Nachdenken, nachdenken.
Aber sich auf die Arbeit zu konzentrieren hinderte ihnnoch immer der hartnäckige Satz: Das überlebt er nicht, das überlebt er nicht.
So verging die Zeit. Der Kollegienrat zerwühlte sich die Haare, tigerte durchs Zimmer, wusch sich zweimal mit kaltem Wasser. Er versuchte zu meditieren, gab es aber gleich wieder auf – unmöglich.
Angelina stand an der Wand, hielt ihre Ellbogen umfaßt und blickte mit ihren riesigen grauen Augen traurig und fordernd.
Auch Masa hüllte sich in Schweigen. Er saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden, sein rundes Gesicht war reglos, die schweren Lider waren halb geschlossen.
Im Morgengrauen, als die Straße in milchigen Nebel gehüllt war, ertönten im Treppenhaus eilige Schritte, ein energisches Klopfen brachte die unverschlossene Tür zum Quietschen, und ins Zimmer stürmte der Gendarmerieleutnant Smoljaninow, ein gescheiter junger Offizier – schwarzäugig, flink, rotwangig.
»Ach, hier sind Sie!« rief er erleichtert. »Wir haben überall nach Ihnen gesucht. Zu Hause, in der Verwaltung, in der Twerskaja – vergebens! Da hab ich mir gedacht: Womöglich ist er noch am Tatort. Ein Unglück, Erast Petrowitsch! Tulpow ist verwundet. Schwer. Er wurde nach Mitternacht ins Marienkrankenhaus gebracht. Bis wir unterrichtet wurden, ist viel Zeit vergangen … Oberstleutnant Swertschinski ist sofort ins Krankenhaus gefahren, und wir Adjutanten erhielten den Befehl, Sie zu suchen. Was geht bloß vor, Erast Petrowitsch?«
Bericht des Gouvernement-Sekretärs A. P. Tulpow, des persönlichen Assistenten von Herrn E. P. Fandorin, dem Beamten für besondere Aufträge bei Seiner Erlaucht dem Moskauer Generalgouverneur.
8. April 1889, nachts drei Uhr
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