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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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getrunken haben, dass sich einer von ihnen kaum auf den Beinen halten kann. Der Mann versucht, sich die Uniformmütze aufzusetzen, findet aber zum Gaudi der Umsitzenden den eigenen Kopf nicht. Zwei sehr betrunkene Männer stehen an ihren Tischen und schleudern sich quer durch das Lokal grobe Beleidigungen an den Kopf. Niemand schert sich um sie.
    Kuppelei wird beinah offen betrieben. Wünscht ein Gast die Dienste einer Prostituierten, wendet er sich einfach an einen der Restaurantchefs. Corday hört, wie der Mann dem Freier antwortet: «Heute Abend dienstbereit.» Worauf er Preis, Adresse und die Etage nennt, mitsamt den «hygienischen Bedingungen».
    Auch in Frankreich, wo seit langem ein System legaler Bordelle existiert, hat der Krieg zu einer starken Zunahme der Prostitution geführt. Die Nachfrage ist sprunghaft gestiegen, und die Behörden drücken, vom Militär ermuntert, nicht selten ein Auge zu. Täglich kommen unzählige Soldaten auf Urlaub nach Paris, und aus dem ganzen Land sind Huren herbeigeströmt. Verhaftungen wegen illegaler Prostitution sind um 40 Prozent gestiegen.
    Auch Geschlechtskrankheiten wie die Syphilis haben spürbar zugenommen. (Übrigens gehört einer der beiden prominenten Gäste des Abends, Georges Feydeau, zu denen, die sich im Laufe des Krieges die Krankheit holen.) Viele Armeen verteilen regelmäßig Kondome an Soldaten, die auf Urlaub gehen.  47 Besonders viel hilft das nicht. Im Vorjahr wurden 22 Prozent der kanadischen Soldaten in Frankreich wegen einer Geschlechtskrankheit behandelt. Von den alliierten Soldaten, die im kommenden Sommer die französische Hauptstadt besuchen, wird jeder Fünfte sich hier anstecken. Nicht dass alle versuchen würden, die Krankheiten zu vermeiden. Infizierte Huren verdienen teilweise mehr Geld als die nichtinfizierten, weil sie für Soldaten attraktiv sind, die sich absichtlich eine Geschlechtskrankheit holen wollen, um nicht an die Front zu müssen. So hat sich groteskerweise ein regelrechter Handel mit Gonorrhö-Eiter entwickelt; die Soldaten reiben ihre Geschlechtsorgane damit ein, in der Hoffnung, ins Lazarett zu kommen.  48 Die ganz Verzweifelten schmieren ihn sich in die Augen, was in vielen Fällen zur Erblindung führt.
    Auch die Prostituierten leisten ihren Beitrag zum Krieg. Früher sollen bestimmte Bordelle obdachlose Flüchtlinge aufgenommen haben, und Corday glaubt zu wissen, dass viele der Edelhuren, die sich an diesem Abend im Maxim’s aufhalten, einen so genannten Patensohn haben. Das bedeutet, dass sie aus patriotischen Gründen einen Soldaten «adoptiert» haben, dem sie, wenn er auf Heimaturlaub nach Hause kommt, gratis zur Verfügung stehen.
    Im Restaurant geht das Palaver weiter. Korken knallen, Rufe, Lachen, Geschrei, Gebrüll, Gläserklirren. Ein Offizier in makelloser Uniform ruft: «Nieder mit den Zivilisten!»
***
    Am selben Tag schreibt Florence Farmborough über einen verwundeten jungen Offizier, dessen Todeskampf sie begleitet hat, in ihr Tagebuch:
     
Wir litten sehr unter dem entsetzlichen Geruch von Verwesung, der mit diesem Typ von kaltem Brand einhergeht, aber wir wussten, dass es nicht mehr lange dauern würde. Ehe der Tod eintrat, um ihn zu erlösen, wurde er etwas ruhiger – er war wieder zu Hause, bei denen, die er liebte. Plötzlich fasste er meinen Arm und rief: «Ich wusste, dass du kommen würdest! Elena, meine kleine Taube, ich wusste, du würdest kommen!» Ich begriff, dass er mich im Fieberwahn mit dem Mädchen verwechselte, das er liebte. Ich beugte mich herab und küsste sein feuchtes, heißes Gesicht, und er wurde ruhiger. Während er sich noch in diesem friedlichen Zustand befand, nahm ihn der Tod mit sich.

109.
    Donnerstag, 3. August 1916  49
    Herbert Sulzbach hört das Kanonengrollen von der Somme
     
    Früher oder später werden sie hineingezogen. Er weiß es. Schon seit über einem Monat haben sie in der Ferne das dumpfe, pulsierende Dröhnen des englischen Artilleriefeuers an der Somme hören können. Er hat die Kommuniqués gelesen, hat über die Spekulationen debattiert: «die größte Schlacht der Weltgeschichte», «ein Versuch, den Krieg zu entscheiden», «kein Meter darf preisgegeben werden», und so weiter. Und er weiß, dass ihnen, wenn sie erst im Einsatz sind, etwas noch Schlimmeres bevorsteht als jene furchtbaren Winterkämpfe in der Champagne vor eineinhalb Jahren.
    Vor knapp einem Monat hat Sulzbachs Batterie ihre alte Stellung bei Evricourt verlassen, wo sie elf Monate

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