Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
gelegen hatte. Sie haben den Ort schätzen gelernt, nicht zuletzt weil er so schön und friedlich war, doch bei ihrem Abzug wirkte er genauso wie all die vielen anderen Dörfer, die sie gesehen hatten: zerschossen, verwüstet, von Kratern zerrissen – die vertraute Topographie des Krieges. Jetzt stehen sie bei Loermont. Auch hier ist es schön. Und ruhig. Noch. Es gibt nur einen Nachteil: Er kann nicht mehr zu seinem Freund Kurt reiten und ihn besuchen.
Die Batterie befindet sich in einer abgelegenen Position, auf einer sommergrünen Wiese am Rande eines Waldes. In einem der höchsten Bäume sitzt ein Mann auf Posten, um die Lichtsignale aus den Schützengräben zu beobachten. Abends singt der Mann für seine Kameraden. Es gibt hier vieles zu tun. Weder Schutzräume noch Geschützstellungen sind fertig. Der zweite Jahrestag des Kriegsbeginns ist ohne Zeremonie vergangen. Sulzbach schreibt: «Man denkt eigentlich gar nicht mehr daran, dass wir ins dritte Kriegsjahr hineingehen und noch weniger, ob und wann wieder einmal Frieden sein wird.» Dabei zweifelt er nicht daran, dass Deutschland siegen wird.
Am liebsten ist Sulzbach vorn an der vordersten Linie und hilft dem Feuerleitsoldaten auf seinem Beobachtungsposten. Erstens weil er dort selbständig arbeiten kann, und zweitens, weil er hier neue Menschen trifft. Er pflegt den Infanterieoffizieren auf ihren nächtlichen Wanderungen durch die Schützengräben zu folgen, von Wachtposten zu Wachtposten. Wie früher verspürt er einen starken Zusammenhalt. Er notiert im Tagebuch:
Wie diese braven Infanteristen, zum Teil Landwehrleute, da ihren Dienst tun, ihre Pflicht erfüllen und jeder Einzelne wirklich wie ein rocher de bronce auf seinem Posten steht, das ist personifizierte Pflichterfüllung, der leibhaftige Glauben an die Gerechtigkeit unseres Sieges!
110.
Sonntag, 6. August 1916
Elfriede Kuhr spielt Klavier auf einem Fest in Schneidemühl
Es ist eine verwirrende Zeit: grauenhaft und aufregend, schmerzhaft und verlockend, qualvoll und glücklich. Die Welt verändert sich und Elfriede mit ihr, als Folge der Ereignisse, aber auch unabhängig davon. Die Räder greifen ineinander, drehen sich zuweilen in entgegengesetzter Richtung, aber doch immer als ein Ganzes.
Früher haben viele den Krieg als ein Versprechen und eine Chance bejubelt, ein Versprechen, das Beste im Menschen und in der Kultur hervorzubringen, und eine Chance, gegen die Auflösungstendenzen anzugehen, die man im Europa der Vorkriegszeit allerorten beobachten konnte. 50 Aber der Krieg gehört nun einmal zu jenen paradoxen Erscheinungen, die nicht selten verändern, was man bewahren, befördern, was man verhindern, zerstören, was man schützen will.
Im Gegensatz zu den schönen Hoffnungen von 1914 hat das, was man lange als «gefährlichen Verfall» bezeichnete, inzwischen die Tendenz, fortzuschreiten, und zwar rasch. Viele sind besorgt wegen der zunehmend lockeren Beziehungen zwischen den Geschlechtern und der um sich greifenden sexuellen Unmoral. Manches führt man darauf zurück, dass viele Frauen – wie Elfriedes Mutter und Großmutter – gezwungen wurden oder die Erlaubnis erhielten, Arbeiten zu übernehmen, die früher von Männern verrichtet wurden, Männern, die jetzt Uniform tragen. Das war sicher entscheidend für den Kriegseinsatz und sollte deshalb eigentlich kein Problem darstellen, aber es gibt durchaus Menschen, die behaupten, dass diese «Vermännlichung» der Frauen sich auf lange Sicht als fatal erweisen wird. 51 Manches schreibt man dem Umstand zu, dass die lange Abwesenheit der Männer an der Front die sexuelle Not drastisch erhöht und zu einer raschen Verbreitung von Erscheinungen geführt habe, die früher streng verboten waren oder als verwerflich galten, wie Onanie, Homosexualität oder Ehebruch. 52 (Wie in Frankreich haben Prostitution und Geschlechtskrankheiten auch in Deutschland zugenommen.) Dazu kommt, dass der ständige Strom von Soldaten kreuz und quer durchs Land an bestimmten Orten zu einem plötzlichen Überschuss an jungen, sexuell aktiven Männern geführt hat, während zugleich immer weniger Männer willens oder in der Lage sind, ihre Frauen zu Hause zu kontrollieren. Besonders aus Garnisonsstädten wird von einer deutlichen Zunahme von außerehelichen Schwangerschaften und illegalen Abtreibungen berichtet. Schneidemühl ist natürlich keine Ausnahme. In der Stadt ist ein Infanterieregiment stationiert, und außerdem befindet sich hier die
Weitere Kostenlose Bücher