Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
wunderbar, dass es einem nicht immer vor den Augen flattert, wenn man fährt. Als ich es geschnitten hatte, habe ich mich gefragt, warum ich es nicht früher getan habe.
Sarrails Orientarmee steht noch immer in Saloniki, ungeachtet der griechischen Neutralität sowie der Tatsache, dass das ganze Unternehmen zu scheitern droht. Die überfüllte Stadt ist jetzt von einem beinahe ebenso starken Befestigungsgürtel umgeben, wie man ihn von der Westfront kennt. 45 Stillstand, mit anderen Worten. Wirkliche Kämpfe finden nur in Mazedonien statt – die britischen Soldaten geben dem Gebiet wegen des Drecks und Schlamms den Spitznamen «Muckedonia». Jetzt ist es dort heißer als hier an der Küste. Krankheiten grassieren, besonders Malaria, aber auch das Dengue-Fieber. Die Verluste im Kampf sind gering.
Olive King erwägt, in die serbische Armee einzutreten. Teils weil sie alle unsinnigen kleinen Arbeiten, die ganze Warterei und die organisierte Untätigkeit in der befestigten Enklave Saloniki satthat. Aber auch weil sie bemerkt, dass die Krankenschwestern im Allgemeinen und ihre neue Chefin im Besonderen freiwillige Frauen wie sie verabscheuen. King hat «genug von weiblicher Disziplin – oder dem, was darunter verstanden wird», will lieber in einem militärischen Verband arbeiten. Daneben gibt es noch einen weiteren Grund in Gestalt eines charmanten serbischen Verbindungsoffiziers, den sie kennengelernt hat. Große Teile der verbliebenen serbischen Armee sind per Schiff von Korfu nach Saloniki verlegt worden.
Die Abende können angenehm sein, zumindest, wenn der Wind nicht zu stark weht und die Luft mit Staub erfüllt. Sie liest oder schreibt Briefe. Manchmal sammelt sie mit einigen Freunden Schildkröten und veranstalten Wettrennen mit ihnen. Gelegentlich kriechen sie durch den Zaun hinaus und besuchen ein kleines Café, gleich hinter dem Lager. Es ist oft leer. Dort trinken sie lemon squash 46 und tanzen stundenlang zu den kratzigen Klängen eines Grammophons. Es gibt zwei Platten mit Tanzmusik: «Dollar Princess» und «La Paloma», und sie spielen sie immer wieder.
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Donnerstag, 27. Juli 1916
Michel Corday isst im Restaurant Maxim’s in Paris zu Mittag
Der Sommer in Paris ist warm und schön. Die Cafés sind gut besucht. Auf den Bürgersteigen drängen sich die Gäste an den Tischen. Sonntags sind die Lokalbahnen, die ins Grüne fahren, voll von Menschen, die einen Ausflug machen. Auf den Straßen sausen Gruppen weiß gekleideter junger Frauen auf Fahrrädern vorbei. Es ist unmöglich, in den vielen Badeorten an der Atlantikküste ein freies Hotelzimmer zu finden.
Michel Corday sitzt mit einem Bekannten im Maxim’s, ganz in der Nähe der Champs-Élysées. Wieder einmal ist er überrascht von dem Kontrast zwischen dem, was er vor Augen hat, und dem, was an der Front geschieht. Wieder einmal denkt er daran, wie unendlich weit entfernt der Krieg zu sein scheint. Das Restaurant ist berühmt für seine Küche – und für seine elegante Art-nouveau-Einrichtung, ein der Gegenwart entrücktes Asyl, eine Erinnerung an glücklichere Tage, ein Versprechen für die Zukunft. Ja, der Krieg ist weit entfernt, und doch ist er gegenwärtig, obwohl die Phänomene, in denen er sich hier manifestiert, sonst gerne verschwiegen werden: etwa Alkohol und Sex – oder Rausch und Geilheit, wie man vielleicht sagen muss.
Im Restaurant wimmelt es von Männern in Uniform verschiedener Waffengattungen und Nationalitäten. Es sind auch ein paar bekannte Gesichter dabei, zum Beispiel der Boulevarddichter Georges Feydeau oder der Professor und Schlachtenmaler François Flameng, dessen Aquarelle in fast jeder neuen Ausgabe der beliebten L’Illustration zu sehen sind. (Flameng gehört zu jenen Zivilisten, die der Anziehungskraft des Militärischen nicht widerstehen konnten, er hat sich einen uniformähnlichen Anzug schneidern lassen. Heute Abend trägt er ein Schiffchen und eine khakifarbene Jacke, Wickelgamaschen und Tressenverschlüsse auf der Brust.) Es sind auch Frauen da; viele von ihnen, wenn nicht sogar die meisten, sind Edelprostituierte.
An diesem Abend fließt im Maxim’s der Alkohol in großen Mengen. Einige Flieger speisen gar nicht, sondern feiern ein sogenanntes Champagneressen. Was vor dem Krieg zu abschätzigen Blicken oder entschiedener Zurechtweisung geführt hätte, wird jetzt toleriert oder scheint die anderen Gäste sogar zu amüsieren. Corday sieht einige britische Offiziere, die so tapfer
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