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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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    Die Typhusepidemie und die verzweifelte Versorgungslage in Palästina sorgen dafür, dass die sogenannte Pascha-Expedition (ein teils aus türkischen Verbänden, teils aus deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen bestehendes Korps, das über große Mengen an Artillerie, Lastkraftwagen und andere moderne Ausrüstung verfügt) niemals (wie geplant) anhält, um auf ihrem langen Marsch durch Kleinasien Atem zu schöpfen, sondern in der großen Hitze einfach weiterzieht, nach Sinai. Sie soll sich an einem zweiten Versuch, den Suezkanal abzuschneiden, beteiligen (wie der erste Versuch wird auch dieser scheitern). De Nogales hat die Kolonnen von Lastkraftwagen und fabrikneuen Kanonen vorbeidröhnen sehen und ist beeindruckt.
    Mit den permanenten Hinrichtungen durch den Strang versucht der osmanische Kommandant die Desertionen zu verhindern, aber der Effekt war bisher minimal. (De Nogales ist der Ansicht, dass er mit seinen drakonischen Maßnahmen ein Übel beheben will, das er teilweise selbst mit geschaffen hat. Es heißt nämlich, der Kommandant sei in Korruption verwickelt, die die Hungersnot überhaupt erst mit ausgelöst hat.) So hat er beschlossen, dass der nächste Deserteur öffentlich hingerichtet werden und vor den Augen seiner Kameraden in der Garnison Jerusalem sterben muss.
    Dies soll jetzt geschehen.
    Der Verurteilte ist ein arabischer Deserteur, diesmal ein Imam.
    Eine lange Prozession windet sich aus Jerusalems Gewimmel von Hausdächern und Kuppeln. An der Spitze marschiert ein Musikkorps und spielt den Trauermarsch von Chopin. Dahinter folgt eine Gruppe hoher Militärs und Zivilisten. Dann der Mann, der gleich sterben soll, auffallend gut gekleidet in einen leuchtend weißen Turban und einen Kaftan aus rotem Tuch. Hinter ihm marschiert das Erschießungskommando. Und schließlich das Ende des Zuges: die Garnison von Jerusalem oder zumindest der größere Teil davon. Unter ihnen Rafael de Nogales.
    Die Menschenmenge drängt sich um einen kleinen Hügel, den ein in die Erde gerammter grober Pfahl krönt. Während das Todesurteil verlesen wird, beobachtet de Nogales den Mann, der gleich sterben wird. Er scheint «sich sehr wenig um sein bevorstehendes Schicksal zu kümmern, sondern raucht ruhig seine cheroot , mit der Todesverachtung, die den Muslim kennzeichnet». Nachdem er das Urteil angehört hat, setzt sich der Mann mit gekreuzten Beinen auf einen Teppich, ihm gegenüber sitzt ein anderer Imam, sein geistlicher Beistand. Aber die beiden verstricken sich in eine lebhafte theologische Diskussion, die fast handgreiflich endet.
    Der Mann, der gleich sterben soll, muss aufstehen. Er wird an den Pfahl gebunden. Man legt ihm eine Augenbinde an. Während dieser ganzen Prozedur raucht er ruhig weiter. Als das Kommando «Legt an!» ertönt und die Soldaten die Gewehre in Anschlag bringen, führt der Mann mit einer raschen Bewegung die Zigarre an seinen Mund. Die Salve kracht, zwei Schattierungen von Rot, die des Kaftans und die des Blutes, vermischen sich, der Mann sinkt zusammen, «seine Hand von einer Kugel am Mund wie festgenagelt».

107.
    Donnerstag, 20. Juli 1916
    Olive King teilt in Saloniki Kleidung aus
     
    Der Tag kühlt ab. Neun Säcke stehen in der Kleiderkammer, und Olive King wartet ungeduldig. In den Säcken sind Kleidung, Ausrüstungsstücke und persönliche Gegenstände von neun Patienten, die an diesem Tag Saloniki verlassen sollen. Ihr Auftrag besteht darin, die Sachen den richtigen Besitzern auszuhändigen, aber bisher ist keiner von ihnen erschienen. Und dabei möchte sie so gern noch ein Bad im lauen Meer nehmen, bevor die Lagertore geschlossen werden. Schließlich geht sie hinüber zu der Abteilung, in der die neun sich befinden, und bittet sie, sich zu beeilen. Endlich kann sie die Säcke übergeben. Einer der Patienten öffnet seinen Sack und protestiert; dies seien nicht seine Sachen. Gemeinsam mit ihm macht sich Olive King auf die vergebliche Suche nach dem richtigen Sack.
    An diesem Abend badet sie nicht mehr. Stattdessen beendet sie einen Brief an ihren Vater. Darin enthüllt sie etwas, das sie bis dahin als «ein tiefes und dunkles Geheimnis» behandelt hat:
     
Ich habe meine Haare geschnitten, als wir hier ankamen (das ist der Grund dafür, dass ich dir keine Fotos geschickt habe, seit wir hier sind), und das kurze Haar ist ein wahrer Segen, spart viel Zeit und ist immer gepflegt und bequem. Es sieht wirklich richtig gut aus. Mein Haar ist so dick geworden, und es ist

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