Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
bekannte Albatros-Fabrik, die Kampfflugzeuge herstellt und viele junge Flieger anzieht, die dort ihre Ausbildung erhalten. 53
Elfriede hat das Phänomen bisher eher aus der Ferne betrachtet – neugierig, verwirrt, abwartend. Ein dreizehnjähriges Mädchen ist von der Schule verwiesen worden, nachdem es von einem Fähnrich geschwängert wurde. Und ihre Mutter hat während eines Besuchs erstaunt festgestellt, «dass es bei euch jetzt eine Eleganz gibt, die der am Kurfürstendamm in Berlin nicht weit nachsteht». Elfriede glaubt, den Grund zu kennen:
Das kommt von all den fremden Offizieren des 134. Reservebataillons und der 1. und 2. Reservefliegerstaffel. Ihretwegen nehmen sich die Frauen und Mädchen viel Zeit, um sich schön zu machen.
Oft sieht man größere Mädchen, manchmal sogar erwachsene Frauen mit Soldaten schäkern, «aus Mitleid», denn die Soldaten «gehen dann an die Front, und werden auf jeden Fall verwundet oder getötet». Natürlich hat die Allgegenwart des Todes dazu beigetragen, dass sich Regeln lockern, die zuvor unumstößlich waren. 54 Elfriede selbst hat sich noch nicht verlocken lassen, aber sie spürt durchaus, dass die Soldaten anders mit ihr sprechen. Sie glaubt, es habe damit zu tun, dass sie jetzt ein richtiges Kleid trägt und das Haar hochgesteckt hat wie eine Erwachsene.
Die ältere Schwester einer Klassenkameradin veranstaltet manchmal ein kleines Fest für junge Flieger. Man lädt zu Kaffee und Kuchen ein, und während Elfriede Klavier spielt, unterhalten sich die Paare und, na ja, küssen sich vielleicht. Für Elfriede ist das Ganze bisher nur ein aufregendes Spiel. Bei diesen Gelegenheiten tut sie so, als sei sie «Leutnant von Yellenic», eine Gestalt, die sie häufig mimt, wenn sie Krieg spielen; sie bzw. er befindet sich in einer Offiziersmesse und spielt Tafelmusik für seine Freunde, «wie in den Romanen von Tolstoi».
Als sie heute zum Fest kommt, begegnet ihr auf der Treppe ein junger, blonder, blauäugiger Fliegeroffizier:
Er blieb stehen, grüßte und fragte, ob auch ich «mit von der Partie» sei. Ich sagte nein: ich sei bloß die Klavierspielerin. Er lachte und antwortete: «Ach so. Das ist aber schade.» «Warum schade?», fragte ich. Aber er lachte nur und verschwand im Zimmer.
111.
Dienstag, 8. August 1916
Kresten Andresen verschwindet an der Somme
Keine Sonne mehr, nur Dunst und Nebel. Die Front hat sich seit Mitte Juli kaum bewegt, aber die Kämpfe wüten weiter. Die Landschaft ist seltsam farblos. Alles Farbige, nicht zuletzt das Grün, ist längst verschwunden, der Sturm der Granaten hat alles zu einem einzigen fahlen Braungrau verschmelzen lassen. 55 Auf beiden Seiten stehen dicht an dicht die Geschütze, an manchen Abschnitten Rad an Rad, und sie feuern rund um die Uhr. An diesem Tag greifen britische Infanteristen das Dorf Guillemont an. Aber was heißt Dorf; durch das wochenlange Bombardement blieb auch von diesem Ort nur ein Haufen Steine, Balken und Schutt übrig. Auf den Karten des britischen Hauptquartiers ist es auch nicht in erster Linie ein Dorf, sondern eine wichtige Stellung , die eingenommen werden muss, nicht um die deutsche Linie zu durchbrechen, sondern um Raum für Manöver zu gewinnen. (Hinter dem britischen Angriff stehen noch andere Motive. An diesem Tag wird der englische König seine Truppen in Frankreich besuchen, und der britische Oberbefehlshaber Haig möchte Seine Majestät gern mit einem kleinen Sieg willkommen heißen.) 56
Der britische Angriff ist gut vorbereitet. Neue Laufgräben sind ausgehoben worden, beinahe bis zum zerschossenen Wald bei Trônes, damit die Ausgangsposition für die Infanteristen sich so nahe wie möglich an den deutschen Linien befindet; eine erfahrene und kampferprobte Division, die 55., soll die Attacke durchführen; das vorbereitende Bombardement war ebenso heftig wie erbarmungslos.
Einer der deutschen Soldaten, die bei dem Angriff getroffen werden, wird Kresten Andresen sein.
Sein Regiment ist als Verstärkung an einen der am stärksten bedrängten Abschnitte an der Somme verlegt worden. Neben Guillemont liegt Longueval, dann kommt der Wald bei Delville, dann Martinpuich, Pozière, Thiepval, Beaucourt, Beaumont Hamel, alles Orte, die aus den Heeresberichten des vergangenen Monats bekannt sind, jetzt umgeben von einer dunklen Aura aus Leichengeruch und verflogener Hoffnung. Zwei Tage vorher hat er an seine Eltern geschrieben:
Ich hoffe doch, ich habe das Meine getan,
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