Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
noch immer, es sei notwendig, den Krieg zu stoppen, er sei ungerecht und falsch, aber er hat begriffen, dass es ziemlich schwer wird, eine so kolossale Aufgabe zu bewältigen, wenn er in einer Nervenheilanstalt hinter Eisengittern sitzt. Er hat in der Wäscherei des Krankenhauses gearbeitet, hat Bettwäsche aufgehängt und unzählige Kopfkissenbezüge gefaltet. Er wollte unbedingt entlassen und für gesund erklärt werden, ohne selbst jedoch zuzugeben, dass er geisteskrank war. Die Ärzte haben erwidert, sie könnten ihn nicht für gesund erklären, wenn er nicht eingestehe, dass er geisteskrank gewesen sei. Auf direkte Nachfragen hat D’Aquila erklärt, dass er nie mehr an die Front zurückzukehren gedenke.
Die Ärzte haben D’Aquila unterstellt, seine Geisteskrankheit nur vorzutäuschen, und man hat versucht, ihn als Simulant zu entlarven. Die Hauptbeschäftigung des Personals besteht darin, die Drückeberger herauszusieben. Nicht dass alle darin gleich beflissen sind – D’Aquila hat selbst gesehen, wie manche Pfleger Simulanten gewarnt haben, wenn die Ärzte kamen, und denen, die sich hartnäckig weigerten, Nahrung aufzunehmen, heimlich Essen zugesteckt haben. D’Aquila ist selbst davon überzeugt, dass viele Patienten Simulanten sind, und er betrachtet sie mit einer fast verächtlichen Skepsis. Gleichzeitig besteht der Verdacht, dass er selbst simuliere. Schließlich hat man ihn sagen hören: «Während der Krieg anhält, ist eine Nervenheilanstalt auf jeden Fall besser als ein Schützengraben.» Wenn er nicht Kopfkissen gefaltet hat oder im Innenhof spazieren gegangen ist, war er mit den übrigen Insassen zusammen. Sie haben Zeitungen und Zeitschriften gelesen, Karten und Domino gespielt und ebenso eifrige wie ahnungslose Diskussionen über die Kriegslage geführt und darüber, was sie als Nächstes erwartet.
Im August organisierte D’Aquila einen spontanen Hungerstreik aus Protest gegen die monotone Ernährung – fast jeden Tag gibt es Reissuppe. Das brachte ihm eine Rüge durch den Direktor ein, sowie drei Tage in einer Isolierzelle. Seitdem ist der Direktor überzeugt, dass D’Aquila blufft. Dass er den jungen Mann gesundschreibt, dient wahrscheinlich nicht nur dazu, einen Unruhestifter loszuwerden, sondern auch als eine Art Strafe – denn D’Aquila muss seinen Dienst wieder antreten. Weigert er sich, wird er de facto zum Deserteur.
Die Tür geht auf. Nicht der Direktor, sondern einer der Ärzte, ein kleiner Professor namens Grassi, begrüßt ihn. Er schüttelt ihm die Hand und gratuliert ihm zur Gesundschreibung.
Am selben Tag verlässt D’Aquila Siena und fährt nach Rom. Die Reise geht über Florenz, wo er einige Stunden auf seinen Anschlusszug warten muss. Er unternimmt einen Spaziergang in die Stadt und bleibt erstaunt auf der schönen Piazza della Signoria stehen. Nichts deutet auf die Qualen hin, die ihn im vergangenen Jahr buchstäblich um den Verstand gebracht haben. Keine Spur davon, dass man sich im Krieg befindet. Die Menschen trinken Kaffee, essen Eis und flirten miteinander. Irgendwo steht ein Orchester und spielt Wiener Walzer.
119.
Sonntag, 15. Oktober 1916
Alfred Pollard entdeckt an der Somme Spuren der Kämpfe des Sommers
Herbstdunkel. Kälte. Nässe. Vollmond. In dieser Nacht ist Alfred Pollard wieder einmal als Späher im Niemandsland an der Somme unterwegs. Das Gesicht geschwärzt mit verbranntem Kork und den Revolver schussbereit in der Hand, arbeitet er sich kriechend durch scheinbar endlose Granattrichter:
Ich war noch nicht besonders weit gekommen, als ich spürte, dass irgend etwas knirschend unter mir nachgab. Es war ein Skelett, dessen Knochen von einer Armee Ratten abgenagt worden waren, die auf dem Schlachtfeld herumwühlten. 72 Die Fetzen einer Armeejacke bedeckten noch seinen nackten Körper. Ich fühlte in den Taschen nach, um etwas zu finden, das ihn identifizieren konnte, aber sie waren leer. Jemand war vor mir dagewesen. Weiter vorn fand ich ein anderes Skelett, dann noch eins und noch eins. Der Boden war mit ihnen übersät. Es waren die Körper all derer, die in den entsetzlichen Kämpfen Anfang Juli gefallen waren. Sie alle waren Briten.
***
Am selben Tag schreibt Angus Buchanan in sein Tagebuch:
Heute Nacht ergaben sich sieben deutsche Askaris. Sie berichten von Nahrungsmängeln und davon, dass viele Eingeborene desertieren und durch den Busch nach Westen ziehen, um wieder nach Hause zu gelangen. Sie schildern auch etwas, das wir
Weitere Kostenlose Bücher