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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Nachrichten erreichen sie selten, und Briefe von zu Hause kommen manchmal erst nach einem halben Jahr an. Sie haben nur eine sehr vage Vorstellung vom Kriegsgeschehen.
    Buchanan war im Herbst zuvor an Malaria erkrankt, hat sich aber wieder erholt; jetzt leidet er also an Ruhr. Gesellschaft leistet ihm das Huhn mit dem weißen Federbusch, das er Anfang Juli bei einem Tauschhandel erwarb. Es ist inzwischen richtig zahm geworden. Bei den Märschen wird es von einem afrikanischen Diener in einem Eimer getragen. Wenn sie das Lager aufschlagen, läuft es frei herum und scharrt nach Nahrung, und aus irgendeinem merkwürdigen Grund findet es immer zu ihm zurück, durch das Gewimmel von Füßen und Hufen. Jeden Tag legt ihm das Huhn ein Ei. Einmal hat er gesehen, wie es eine kleine Giftschlange tötete und auffraß. Nachts schläft es neben seinem Bett.
    Buchanan liegt auf seinem Bett aus Gras und schreibt Tagebuch. Er ist deprimiert, nicht zuletzt wegen des Mangels an greifbaren Erfolgen:
     
Fühle mich heute frischer, und besserer Stimmung. Aber weil ich die Geduld verloren habe, wünschte ich, wir könnten diese Geschichte ein für allemal zu Ende bringen und uns Afrika danach eine Weile sparen. Ich wünschte so sehr, wir könnten einfach so die Farbe und Beschaffenheit dieses bekannten Bildes  74 , dessen seltsame Kennzeichen inzwischen unauslöschlich sind, ändern. Ich fürchte, es fühlt sich manchmal so an, als sei ich im Gefängnis und sehnte mich nach der Freiheit. In solchen Momenten wandern die Gedanken, und alte Erinnerungen tauchen auf, lieb gewonnene, wohlbekannte Szenen von früher, die ich mir jetzt mit einer tiefen und unerschütterlichen Wertschätzung vergegenwärtige. Wünsche, sie könnten bleiben; wünsche, sie könnten mit ihrer Kraft meinen Körper über diese gewaltigen Entfernungen hinwegheben und mich in einem schönen, friedlichen Land absetzen!
***
    Am gleichen Tag lauscht Paolo Monelli besorgt dem hämmernden Geräusch der italienischen Artillerie vom Monte Cauriol, wo die Kämpfe weitergegangen sind. Er schreibt in sein Tagebuch:
     
Der Himmel bewölkt, grau und nah. Nebel steigt aus dem Tal auf, isoliert die beiden Gipfel, unseren eigenen und jenen, den wir angreifen sollen. Wenn wir sterben, werden wir von der Welt abgeschnitten sterben, mit dem Gefühl, dass es eigentlich niemanden interessiert. Wenn man angesichts des Gedankens, dass man sich opfern soll, resigniert hat, würde man sich zumindest wünschen, dass es vor Zuschauern geschähe. In der Sonne zu fallen, bei klarer Sicht, auf der offenen Bühne, vor den Augen der Welt – so stellt man sich vor, für sein Land zu sterben: Aber so wie hier, da gleicht man ja eher einem Verurteilten, der insgeheim erdrosselt wird.

122.
    Sonntag, 29. Oktober 1916
    Richard Stumpf leidet unter der Monotonie an Bord der SMS Helgoland
     
    Was wohl schlimmer ist, die ständigen Schwaden blauen Tabakrauchs, die das Quartier unter Deck erfüllen, oder der permanente «Kohldampf, der einem dauernd in die Gedärme kriecht»? Stumpf ist so trübe gestimmt wie der heutige Tag. Er erinnert sich an die freudige Erregung, die ihn im Oktober vor vier Jahren als jungen Rekruten erfüllt hatte, und leidet unter dieser Diskrepanz. Der Rausch nach der großen Schlacht im Skagerrak ist verflogen. Alles ist wieder zur alten Routine geworden, grau wie das Schlachtschiff: kurze, ereignislose Patrouillen an der Küste entlang, dann wieder lange Hafenzeiten. Wenn überhaupt, agiert die Hochseeflotte noch vorsichtiger als zuvor. Sein «Gefängnis aus Stahl», die SMS Helgoland , ist wieder vertäut, diesmal, um einen defekten Zylinder in der Backbordmaschine zu reparieren.
    Wieder wird Stumpf vom Tabakrauch an Deck getrieben: «Diese verfluchten Stinkpfeifen. Die verderben mir die Stimmung und den Appetit. Wenn ich höre, dass der Rauchtabak in der Kantine wieder teurer geworden ist, freue ich mich aus tiefster Seele.»  75 Er leidet unter dem Rauch, und unter der Monotonie. Er hat wenige Freunde an Bord. Die anderen Matrosen finden ihn seltsam, wegen seiner geistigen Interessen und der ständigen Schreiberei. Stumpfs Energien, die körperlichen und die intellektuellen, finden kein Ventil, er dreht sich im Kreis. Neue Bücher hat er im Moment nicht, aber er hat sich welche aus Berlin bestellt.
    Der 29. Oktober scheint wieder ein nutzloser Tag zu werden. Am Nachmittag wird jedoch die ganze Besatzung an Deck gerufen. Sie sollen ein zurückkehrendes U-Boot willkommen

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