Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Lächerlichkeit. Autoren, die den Ausdruck «nach dem Frieden» benutzen, werden angehalten, «nach dem Krieg» zu schreiben. Ein Kollege, der in einem benachbarten Ministerium arbeitet, hat die Zeitungen dazu bringen können, das Wort «Pferderennen» künftig zu vermeiden und stattdessen von «Auswahltest für Pferde» zu sprechen. «Wir sind gerettet!», schnaubt Corday.
Aber eigentlich regen ihn weniger die Zensur und die Sprachregelungen auf als die Tatsache, dass die Journalisten sich so willig zum Sprachrohr von nationalistischen Politikern und Militärs haben machen lassen. Corday schreibt in sein Tagebuch:
Die französische Presse hat nie die Wahrheit enthüllt, nicht einmal diejenige, die trotz Zensur zu finden ist. Stattdessen wurden wir einem Bombardement wohlklingenden Palavers ausgesetzt, von grenzenlosem Optimismus, von systematischer Schwarzmalerei des Feindes, von einer Entschlossenheit, die Grausamkeiten des Krieges zu verschweigen – und dann verschwand alles hinter einer Maske von moralisierendem Idealismus!
Wörter gehören zu den wichtigsten strategischen Ressourcen des Krieges.
Am Nachmittag läuft Corday zu seinem Büro im Ministerium. Auf dem Boulevard begegnen ihm reihenweise verwundete, mit Orden geschmückte Offiziere auf Heimaturlaub: «Sie scheinen hauptsächlich hierherzukommen, um sich bewundernde Blicke abzuholen.» Er kommt an Warteschlangen vor Lebensmittelläden vorbei. Bisher war es ein wichtiger Teil der Propaganda, dass es den Deutschen an allem fehle, während in Frankreich alles zu haben sei. Jetzt sind die Mängel aber auch hier zu spüren. Zucker ist schwer zu bekommen, Butter wird nur hundertgrammweise verkauft, und Apfelsinen sind in den Läden nicht mehr zu finden. Gleichzeitig gibt es einen neuen Anblick im Stadtbild, nämlich die nouveaux riches , die Neureichen. Oder NR, wie sie manchmal genannt werden. Es sind Schwarzmarkthaie, Kriegsprofiteure oder andere, die viel Geld durch Verträge mit dem Militär, durch den Warenmangel oder Ähnliches verdient haben. NR verbringen ihre Zeit in Restaurants, wo sie oft das Allerteuerste essen und das Allerfeinste trinken. Die Juweliere haben selten bessere Geschäfte gemacht. Die Damenmode ist üppig und prunkvoll. Es wird weniger denn je vom Krieg gesprochen. Jedenfalls in den unteren Klassen.
An diesem Abend arbeitet Michel Corday bis spät in die Nacht. Gemeinsam mit einem Kollegen aus dem Bildungsministerium sitzt er an einem Bericht an das Komitee für Erfindungen. Erst gegen zwei Uhr in der Nacht sind sie fertig.
115.
Ein Tag im September 1916
Pál Kelemen besucht das Bahnhofsrestaurant in Sátoraljaújhely
Einigermaßen geheilt von seiner Malaria und ausgeruht nach einer langen Zeit der Rekonvaleszenz (die sowohl Kirchenbesuche als auch Saufgelage beinhaltete), ist ihm ein etwas leichterer Dienst zugewiesen worden. Heute ist er auf dem Rückweg von der Front in den Karpaten, wo er in der Nähe von Uzok eine Sendung Packpferde ablieferte. In Uzok hat ihm ein Infanteriehauptmann – im diskreten Tausch gegen ein Paar neue und sehr schöne Reitstiefel aus gelbbraunem Leder – seinen ersten richtigen Urlaub seit eineinhalb Jahren genehmigt. Das Reiseziel ist Budapest. Kelemen ist bestens gelaunt.
In Sátoraljaújhely muss er umsteigen, und er vertreibt sich die Wartezeit im Bahnhofsrestaurant. Dort halten sich viele Fahrgäste auf, alte und junge, Frauen und Männer, Zivilisten und Militärs, «an Tischen, die mit gefärbten Tüchern bedeckt sind». Sein Blick fällt auf einen jungen, hochdekorierten Fähnrich mit dem Gesicht eines Knaben:
Er sitzt am Kopfende eines der Tische und verzehrt in Ruhe ein gelb glasiertes Tortenstück, das auf seinem Teller liegt. Sein Blick wandert die ganze Zeit im Saal umher, aber er ist leer und müde und kehrt jedes Mal wieder zu diesem Tortenstück zurück, das er mit offensichtlichem Genuss aufisst. Er trägt eine schäbige Felduniform, mit großen und kleinen Silbermedaillen an der Brust. Vermutlich ist er im Heimaturlaub gewesen und soll jetzt in die Schützengräben zurück.
Im Restaurant herrscht ständige Unruhe. Er aber sitzt dort stoisch an der Wand, nur beschäftigt mit seinen eigenen Gedanken – und mit Tortenstück Nummer zwei, das auf seinem Teller rasch kleiner wird.
Er trinkt einen Schluck Wasser und nimmt sich ein drittes Stück von der gläsernen Kuchenplatte, auf der eine reich glasierte Torte liegt. Nicht weil es so gut schmeckt, isst er weiter.
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