Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
In Erwartung harter Zeiten versucht er sich einen Vorrat von Köstlichkeiten einzuverleiben, die er mit seinem Heimatort verbindet.
116.
Mittwoch, 20. September 1916
Herbert Sulzbach amüsiert sich in Brüssel
Sie haben es eilig, denn ihr Fronturlaub dauert nur achtundvierzig Stunden, aber bei St. Quentin ist kein Durchkommen. Sulzbach und sein Freund, der Leutnant, stecken zwei Stunden fest. Sowohl die Bahnlinie als auch die Straßen sind verstopft mit Truppen, die vom Schlachtfeld an der Somme kommen oder dorthin unterwegs sind. (Bei Combles sind deutsche Gegenangriffe eingeleitet worden.) Breite Marschkolonnen bewegen sich träge durch die engen Straßen.
Man kann sie leicht unterscheiden: Diejenigen, die von den Kämpfen zurückkommen, tragen verschmutzte, zerrissene Kleidung, zeigen einen müden, gleichgültigen Gesichtsausdruck. Diejenigen, die in den Kampf ziehen, sind sauber und ausgeruht, und ihre Gesten und Worte verraten, dass sie nicht recht verstanden haben, was sie erwartet.
Dann geht die Fahrt weiter. Le Cateau. Maubeuge. Braine-le-Comte. Brüssel. Es ist Abend, als sie das elegante Hotel erreichen, in dem sie ein Zimmer gebucht haben. Im Vergleich zu dem engen und schmutzigen Unterstand, in dem er sonst schläft, erscheint dieses Zimmer Sulzbach unwirklich, wie ein Traum. Schon das Bett: weich und mit sauberen weißen Laken bezogen. Bald sitzen die beiden unten im Restaurant, lauschen den Wohlklängen eines Orchesters, nehmen eine wohlschmeckende Mahlzeit zu sich und beobachten gutgekleidete Frauen im Saal. Später wandern sie von Tanzlokal zu Tanzlokal. Sulzbach hat schon häufig über den Kontrast zwischen der düsteren Realität des Krieges und der fast idyllischen Welt nachgedacht, die jeden erwartet, der die Front hinter sich gelassen hat. Es hört nicht auf, ihn zu faszinieren. Dort der Tod, hier das Leben. Etwa auf Heimaturlaub im Frankfurter Elternhaus. Aber auch an der Front kann man Momente von Schönheit, plötzliche Stille in der ganzen Unruhe erleben.
In gewisser Weise ist er froh darüber, dass es diesen Kontrast gibt, dass tatsächlich ein Idyll existiert, in das man fliehen kann, dass es noch möglich ist, elegante Hotels aufzusuchen und in einem weichen, sauberen Bett zu schlafen, dass man noch gut essen und viel trinken kann, dass es noch möglich ist, auszugehen und jungen Frauen den Hof zu machen. Er hat nicht das Bedürfnis, sich vor seinen Frontkameraden zu rechtfertigen. Sie verstehen ihn sehr gut. Aber vielleicht versteht seine Familie ihn nicht, diesen Leichtsinn, bei ihm, einem der Akteure in diesem welthistorischen Kampf. Er schreibt in sein Tagebuch:
Man darf es uns nicht übel nehmen – ebenso wenig, wie ich es der Heimat übel nehme, dass es noch Amüsements dort gibt; denn, wer weiß, ob man das noch einmal wird genießen können. 70
Im Laufe des Abends trifft er einen schnauzbärtigen Leutnant in seinem Alter. Um den Hals trägt der Mann den begehrtesten Orden von allen, den «Pour le mérite», den «Blauen Max», wie er auch genannt wird. Sulzbach erkennt den Mann sofort – es ist das Fliegerass Wilhelm Frankl, der wie Sulzbach einer jüdischen Familie aus Frankfurt am Main entstammt. Sulzbach interessiert sich für die deutschen Kampfflieger, freut sich über ihre Erfolge, betrauert ihre Niederlagen und merkt sich die Zahl der Abschüsse, als seien es Sportergebnisse. Der Kult der Fliegerhelden hat in Deutschland fast eine kleine Industrie hervorgebracht: Es sind Büsten, Öldrucke, Schriften oder Sammelbilder im Angebot. Sulzbach selbst möchte auch Kampfpilot werden.
Als der Urlaub zu Ende geht und es Zeit ist, Brüssel zu verlassen, fühlt er sich belebt, ja gestärkt. Zurück lässt er eine neue Bekanntschaft, ihr Name ist Berthe.
Auch auf dem Rückweg hält der Zug oft an, um Kolonnen von Infanterie und Artillerie durchzulassen, die auf dem Weg zur Somme sind oder von dort zurückkommen. Der Anblick Letzterer erschüttert seinen frischen Mut gleich wieder: Die Männer, die aus der Schlacht kommen, sind vollkommen erschöpft. Wann wird er in den brodelnden Kessel geworfen?
117.
Samstag, 23. September 1916 71
Paolo Monelli spricht auf dem Monte Cauriol mit einem Toten
Sie sind inzwischen auf vielen schrecklichen Bergen gewesen, aber er fragt sich, ob dies nicht der schlimmste von allen ist. Vor ungefähr einem Monat erstürmten sie den Monte Cauriol, an sich schon eine Leistung, denn der Berg ist hoch und die
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