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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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zerrissenes Hemd durch ein anderes ebenso zerrissenes zu ersetzen. Es ist ihnen streng verboten, mit der Bevölkerung der Stadt zu fraternisieren. Manchmal können sie sich betrinken.
    Seit Einbruch des Winters friert er viel. Es gibt kaum Holz, und das wenige, das sie finden, ist oft nass. Wenn er es in den kleinen Ofen steckt, fängt es an zu qualmen. Die Langeweile und die Monotonie sind jedoch das Schlimmste. Einen großen Teil der Zeit verbringt Mousley in seinem Zimmer, das er mit einem anderen Offizier teilt. Er schläft viel, raucht. Schon lange hat er nicht mehr Tagebuch geführt.
    Als er an diesem Morgen aus dem Fenster schaut, ist das Licht kälter, blasser. Schnee. Die ganze Welt hat sich verändert. Das rotbraune Dächergewirr, das er zu betrachten gewohnt war, ist weiß geworden, und die Stadt erscheint plötzlich pittoresk. Die Straßen sind menschenleer. Das einzige Zeichen von Leben sind die Stimmen der Muezzin. Der Anblick dieser plötzlichen Verwandlung – die der Schnee herbeigeführt hat, «dieses reine und gottgleiche Element, schweigend und geheimnisvoll» – erfüllt ihn mit einer merkwürdigen Energie, die seine Apathie besiegt, lässt ihn wieder hoffen und ruft Erinnerungen wach.
    Er nimmt sein Tagebuch und schreibt den ersten Eintrag seit Anfang Oktober: «1. Februar 1917. Vier Monate sind vergangen. Während ich dies schreibe, ist die Erde fußhoch mit Schnee bedeckt.» Später begibt er sich mit einigen anderen britischen Offizieren zu einem eineinhalb Kilometer entfernten Hügel. Dort fahren sie Schlitten, «spielen, dass wir wieder Schuljungen sind». Auf dem Nachhauseweg machen sie eine Schneeballschlacht.

130.
    Freitag, 2. Februar 1917
    Richard Stumpf schöpft neue Hoffnung in Wilhelmshaven
     
    Das Barometer steigt weiter. Am Morgen dürfen sich die Matrosen, die ihre Wache hinter sich haben, auf einen Marsch begeben, oder vielmehr auf eine kleine Exkursion, nach Mariensiel. Sie gehen in einfacher, loser Formation. An der Spitze marschiert die Schiffskapelle und macht Musik. Das dicke Eis funkelt, seine Schönheit und Kraft imponieren Stumpf, aber er denkt daran, dass es bald aufbrechen und spurlos verschwinden wird. Auf dem Heimweg marschieren sie durch Wilhelmshaven.
    An der SMS Helgoland werden wieder einmal Reparaturen und Änderungen vorgenommen. Diesmal werden die schnell schießenden 8,8-cm-Geschütze des Schiffs demontiert. Die Skagerrakschlacht hat gezeigt, dass ihre Reichweite nicht ausreicht und die Geschütze deshalb wirkungslos sind – «eine Meinung», schreibt Stumpf in sein Tagebuch, deren Äußerung vor zwei Jahren dazu geführt hätte, dass man «wegen Landesverrats ohne weiteres erschossen» worden wäre. Aus diesen Kanonen ist kein einziger Schuss abgefeuert worden. Alle, die wie Richard Stumpf ihren Dienst verrichtet haben, taten es ohne den geringsten Nutzen. Er tröstet sich damit, dass die Geschütze an Land besser zu gebrauchen sein werden.  5 Stumpf ahnt, dass große Dinge bevorstehen. Er hat seinen Glauben an die Zukunft wiedergefunden: «Die Weltgeschichte hält den Atem an und sieht zu, wie Alldeutschland zum letzten, zum zerschmetternden Schlage ausholt.»
    Sie kehren auf das Schiff zurück und essen zu Mittag. Dann kommt der wachhabende Offizier mit einem Zettel: «Hört zu, Leute, ein Telegramm aus Berlin: ‹Von heute ab tritt U-Boot-Krieg in Kraft.›» Alle sind «extrem froh» über die Nachricht. Bald wird an Bord über nichts anderes mehr geredet. Die meisten scheinen zu glauben, es sei jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis Großbritannien in die Knie geht. Dies sei «ein Todesurteil für England», die in die Tat umgesetzte deutsche Variante des «Kampfes bis zum bitteren Ende», den französische Politiker schon so lange verkündet hätten.
    Stumpf gehört zu den Zweiflern. Aber er gibt dem Ganzen vier Monate Zeit; dann wird sich die Lage geklärt haben. Ansonsten bewertet er die Ankündigung des uneingeschränkten U-Boot-Kriegs als verständliche Reaktion auf die britische Hungerblockade, die diesen kalten und elenden «Steckrübenwinter» in Deutschland verursacht hat. Das bekommen sie jetzt meistens zu essen: Rüben in unterschiedlichster Form. (Die Variationen sind so zahlreich wie die Grundbestandteile simpel; es gibt Steckrübenpudding und Steckrübenfrikadellen, Steckrübenmus und Steckrübenmarmelade, Steckrübensuppe und Steckrübensalat. Manche bezeichnen Steckrüben als die «preußische Ananas».) Die Rüben werden oft mit

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