Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
überbevölkerten, überbefestigten Militärlager – mit seiner stark unterbeschäftigten Armee. Auf den Straßen ein Maskenball von Uniformen: die der Franzosen blaugrau, die der Engländer khaki, die der Serben braun, die der Russen braungrün, die der Italiener grüngrau. Die polyglotte Mischung wird durch Kolonialtruppen aus Indien, Indochina und Nordafrika abgerundet. Im Herbst gab es Versuche, die Bulgaren im Norden zurückzudrängen, aber die Front hat sich kaum bewegt. Jetzt steht wieder alles still. Das Wetter ist wie üblich wechselhaft: warm und sonnig oder kalt und windig. Es hat zwei Tage geschneit. Olive King liegt unter einem Krankenwagen und friert.
Eigentlich hatte sie gehofft, den Morgen in einem der Warmbadehäuser unten am Hafen verbringen zu können, aber der Wagen hat nicht mitgespielt. Er muss repariert werden. Also liegt sie in einer ausgekühlten Garage unter dem Wagen und nimmt das Getriebe auseinander. Sie schraubt mit blau gefrorenen Fingern herum. Draußen weht ein scharfer Wind.
Olive King ist jetzt Angehörige der serbischen Armee, sie und ihre beiden Autos. (Zu der alten Ella hat sie noch einen leichteren und schnelleren Krankenwagen der Marke Ford gekauft – den repariert sie gerade. Und da die Serben auf dem großen Rückzug fast alle ihre Fahrzeuge verloren haben, hatte sie mehr als genug zu tun. Kein ewiges Patrouillieren von Lampe zu Lampe mehr, kein Hantieren mit Säcken voller zerlumpter Kleidung. Stattdessen ist sie auf lange, mühsame Fahrten auf schmalen, gefährlichen Bergstraßen geschickt worden, Straßen, die in Westeuropa diese Bezeichnung kaum verdient hätten, Pfade vielleicht, Spuren im Lehm. Gerade jetzt sind sie kaum befahrbar. Wenn die Temperatur über null steigt, verwandelt sich alles in Schlamm. Sinkt sie unter den Gefrierpunkt, erwartet sie eine Eisbahn.
Der Krieg ist näher gekommen. Mrs. Harley, mit der sie seit ihrer Möbeljagd in Frankreich zusammengearbeitet hat, und die «in einem Alter, wo die meisten Damen sich damit begnügen, zu Hause zu sitzen und Strümpfe zu stricken», Strapazen überstanden hat, die halb so alte Frauen wohl nicht ausgehalten hätten – ist seit einem Monat tot. Sie wurde von feindlichen Schrapnellkugeln getroffen – bulgarischen? österreichischen? –, als sie oben in Monastir mit Flüchtlingen gearbeitet hat. Von ihren Fahrten an die Front im Norden hat King nicht nur zwei bulgarische Rucksäcke voller Schlachtfeldsouvenirs mitgebracht – Patronenhülsen, Granatsplitter –, sondern auch Bilder von einem Schlachtfeld, das mit halb bedeckten Leichen übersät war. Und zum ersten Mal bekam sie tatsächlich den verabscheuungswürdigen Feind zu Gesicht, in Gestalt bulgarischer Kriegsgefangener.
Außerdem hat sie sich verliebt, was keineswegs ungewöhnlich ist. Etwas in diesem zwanghaften Leben voller Ungewissheit führt dazu, dass die alltäglichen Ängste und Konventionen, die einem sonst im Weg stehen, plötzlich keine Rolle mehr spielen. Es ist wohl diese Verliebtheit, die ihr im Moment am meisten bedeutet. Nicht der Krieg. Der hat sich inzwischen in eine Kulisse verwandelt, einen monotonen Alltag, zuweilen absurd oder bizarr, manchmal gefährlich oder erschreckend, oft nur irritierend. Wie jetzt, als der Traum von einem heißen Bad plötzlich von einer nicht funktionierenden Fußbremse zunichte gemacht wird.
Das Objekt ihrer Liebe ist der charmante serbische Verbindungsoffizier, Hauptmann Milan Jovicic, genannt Jovi, ein Mann in ihrem Alter, heiter, klug und launisch. Sie ist auf gemeinsam begangenen Festen – hier ahnt man die kratzenden Töne des immer wieder gespielten «La Paloma» – herangereift, aber auch unter dem äußeren Druck der gemeinsamen Gefahr. Als sie im September vorigen Jahres mit ihrem ersten Malariaanfall zu Bett lag, besuchte er sie mindestens zweimal am Tag und blieb oft stundenlang. Ihre Gefühle werden offenbar erwidert. Sie können sich nur heimlich treffen, aber es wird trotzdem viel über sie getratscht, was sie ärgert. Es ist keineswegs nur eine Affäre. Affären hat sie früher gehabt. Diesmal ist es viel mehr.
King weiß, dass in diesen Jahren etwas mit ihr geschehen ist. Und das macht ihr Angst. Möglicherweise fürchtet sie die Reaktionen der anderen. So schreibt sie, nachdem sie in die serbische Armee eingetreten ist, in einem Brief an ihren Vater:
Segne dich, lieber Papa, ich liebe dich so sehr, du wirst nie verstehen, wie sehr. Ich frage mich, ob du finden wirst, dass
Weitere Kostenlose Bücher