Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
ich mich sehr verändert habe. Ich weiß, dass der Krieg mich ziemlich selbstbezogen gemacht hat, und ich weiß, dass ich jetzt noch furchtbar viel selbständiger bin als je zuvor.
Ihre Verliebtheit erwähnt sie mit keinem Wort. Jovi wird nur «ein Kumpel» genannt, was verglichen mit den Konventionen vor dem Krieg radikal genug ist. Aber nur wenige denken noch an Überwachung, Anstandsdamen und korrekte Umgangsformen zwischen ledigen Männern und Frauen. Nicht hier, nicht jetzt.
Zur Mittagszeit unterbricht Olive King die Arbeit in der kalten Garage und wandert durch den Schnee zu der kleinen Wohnung, die sie mit zwei anderen Fahrerinnen teilt. Dort angekommen zündet sie den kleinen Petroleumofen an, die einzige Wärmequelle im Raum, er muss zu dieser Jahreszeit permanent brennen, wenn sie sich dort aufhalten. Sie macht sich Sorgen wegen des Petroleumpreises, der ständig zu steigen scheint. Eine Kanne kostet neunzehn Franc und reicht nur für ein paar Tage. «Wenn Amerika in den Krieg eintritt, sollte es für uns einen ermäßigten Preis geben.»
King beschließt, in ihrem Zimmer zu bleiben. Sie hat für heute genug getan. Der andere Mechaniker soll die Arbeit zu Ende bringen. Sie muss an die guten tasmanischen Äpfel denken. Ist zu Hause in Australien vielleicht noch die Saison dafür? Ob Papa ihr vielleicht eine Kiste schicken kann?
133.
Ein Tag im Februar 1917
Florence Farmborough denkt über den Winter in Trostianitse nach
Es war ein schlechter Winter, im Großen wie im Kleinen. Im Dezember hat sie die Nachricht erreicht, dass ihr Vater gestorben ist, 84 Jahre alt, und im vorigen Monat ist der Vater der russischen Familie gestorben, der bekannte Herzchirurg. Im Krieg herrscht wieder einmal Stillstand. In diesem Abschnitt der Ostfront scheitern alle größeren militärischen Operationen am Schnee und an den Minusgraden, und Florence’ Lazaretteinheit nimmt nur sehr sporadisch Patienten auf. Manchmal ein paar Verwundete, hin und wieder ein paar Kranke. Meistens haben sie nichts zu tun.
Wie immer wird die Nahrungsknappheit in den kalten Monaten größer, aber in diesem Jahr ist es schlimmer denn je. In Moskau und St. Petersburg hat es Hungerkrawalle gegeben. Die Kriegsmüdigkeit ist immer akuter geworden, und die Leute machen ihrer Unzufriedenheit erstaunlich offen Luft. Es sind eine Menge Gerüchte über Unruhen, Sabotage und Streiks in Umlauf. Vor 1914 behaupteten einige Schlaumeier unter den Ökonomen, dass ein zukünftiger Krieg kurz sein werde, da ein langer Krieg eine wirtschaftliche Katastrophe bedeuten würde. Sie haben am Ende recht behalten. Allen beteiligten Ländern ist das Geld, das echte Geld, ausgegangen, und seit einiger Zeit wird der Krieg auf beiden Seiten entweder mit Krediten oder mit der Notenpresse finanziert. Die Hungersnot in Russland hat also nicht nur mit Kälte und Mangel an Nahrungsmitteln zu tun; sie ist auch der steigenden Inflation geschuldet. Außerdem ist die Freude über die vielen Siege im Sommer längst der Enttäuschung gewichen, offensichtlich haben die vielen Opfer zu keiner Wende, zu keiner Entscheidung geführt.
Der allgemeine Überdruss am Krieg lässt die Kritik an der obersten Kriegführung und sogar am Zaren selbst immer lauter werden. Gerüchte darüber, was am Hof geschehen ist oder möglicherweise gerade geschieht, verbreiten sich rasant. Der Mord an dem zuvor unbekannten Mönch Rasputin vor anderthalb Monaten scheint das Bild einer allgemeinen Verkommenheit, die sich bis nach ganz oben verbreitet hat, nur zu bestätigen. 6 Viel von alldem hat Florence, beschäftigt wie sie war mit den zwei Todesfällen in ihrem persönlichen Umfeld, nicht mitbekommen. Aber um den Zaren, der bestenfalls als wohlmeinend und untüchtig gilt, tut es ihr leid.
Nein, es ist ein schlechter Winter. Die lähmende Untätigkeit und die grassierende Unruhe sorgen für ständige Streitereien unter den Leuten in der Lazaretteinheit. Florence Farmborough spürt die Irritation:
Wir scheinen alle darauf zu warten, dass etwas geschieht. So wie bisher kann es nicht weitergehen. Es stellen sich viele Fragen, aber niemand kann sie beantworten. «Wird der Krieg weitergehen?» «Wird es einen Separatfrieden zwischen Deutschland und Russland geben?» «Was werden unsere Alliierten dann tun?»
Es sei ein «trauriger, bedrückender Winter», schreibt sie in ihr Tagebuch: «Die Kälte und das Eis tun das Ihre, um unsere Gedanken abzustumpfen und uns zu
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