Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
die Warteschlangen von bis zu dreitausend Leuten, die vor den großen Lebensmittelläden stehen, um sich ihre Zuckerration abzuholen. Und umgekehrt zeigt es nicht die Scharen von Menschen, die die Restaurants, Teesalons, Theater, Varietés und Kinos bevölkern.
128.
Ein Tag im Januar 1917
Paolo Monelli lernt, wie man sich neugierige Besucher vom Leib hält
Das Winterwetter hat nachgelassen, der Beschuss ebenso. Außerdem sind die Mauleselpfade wieder ausgetreten. Jetzt zeigen sich jene Besucher, die den berüchtigten Gipfel sehen wollen, um später sagen zu können: «Ich war da!»
Sie sind keineswegs willkommen.
Wenn sie den unteren Rängen angehören, bombardiert man sie am besten mit Schneebällen und Eisbrocken und tut so, als ob nichts wäre, wenn sie in ihrer Verwirrung plötzlich keuchend vor einem auftauchen. Bei höheren Chargen muss man subtiler vorgehen. Wenn per Telefon die Nachricht kommt, dass ein hohes Tier da unten sich das Schneehemd überzieht, lässt man einige Sprengladungen hochgehen, die in der Nähe angebracht sind. Eine Kaskade von Steinen und Schnee poltert dann den Berg hinab, und der österreichisch-ungarische Posten auf dem gegenüberliegenden Gipfel feuert als Antwort ein halbes Dutzend Granaten ab. («Zeem choom zeem choom!»)
Und der Bataillonschef pflegt bedauernd zu sagen, dass er auch nicht begreife, was da los sei: «Bis eben ist es da drüben so ruhig gewesen.» Der hohe Besuch dort unten «wird augenblicklich von nostalgischer Sehnsucht nach dem Tal befallen» und verschwindet wieder.
***
Zu diesem Zeitpunkt stehen Herbert Sulzbach und seine Batterie noch an der Somme. Er schreibt ins Tagebuch:
Was herrscht von der ersten Sekunde an für eine wunderbare Kameradschaft. Jeder hilft dem andern, jeder ist dem andern gefällig, jeder gibt dem andern zu essen. Ja, es gibt so unendlich viel Kleinigkeiten und Stimmungen, die man gar nicht alle niederschreiben kann, aber sie gipfeln alle in dem einen herrlichen Wort: Kameradschaft.
129.
Donnerstag, 1. Februar 1917
Edward Mousley sieht über Kastamonu Schnee fallen
Er hat den Marsch überlebt und den Endpunkt der Eisenbahn in Ras al-Ayn erreicht. Er und die anderen, die die zwei Monate lange Wüstenwanderung von Bagdad hierher geschafft hatten, konnten dann in Viehwaggons nach Nordwesten fahren. Und die Orte rollten vorbei. Euphrat. Osmaniye. Die Gebirgskette des Anti-Taurus – das Mittelmeer als Silberstreifen in der Ferne. Gülek Bogazi. Das Taurusgebirge. Pozanti. Afyonkarahisar. Eskisehir. Ankara. Hinter Ankara wieder zu Fuß, nach Norden, aufwärts, in zunehmender Kälte über Berge, die mit Nadelwald bewachsen sind, bis nach Kastamonu, das gut siebzig Kilometer vom Schwarzen Meer entfernt liegt. Dort, in den christlichen Vierteln am Rande der Stadt, die nach den Angriffen auf die Armenier halb verlassen sind, wurden die Gefangenen in einigen großen Häusern einquartiert.
Die Verhältnisse in Kastamonu sind geordnet, sehr geordnet, gemessen an den Zuständen nach der Kapitulation. Sie werden gut behandelt. Mousley und die anderen begreifen allmählich, dass die Abscheulichkeiten während des Marsches keinem Plan folgten, sondern vor allem der üblichen Mischung aus grausamer Gleichgültigkeit und Unfähigkeit geschuldet waren. Außerdem haben sie in Kastamonu die ganze Zeit von ihrem Offiziersrang profitiert. Die Bedingungen für die gefangenen Soldaten und Unteroffiziere sind noch immer überaus hart. Während Mousley und die anderen jetzt hauptsächlich mit Überdruss, Albträumen und verschiedenen Krankheiten zu kämpfen haben, werden die Soldaten, die den Transport überlebt haben, an anderen Orten zu harter Arbeit gezwungen. 4
In Kastamonu kann Mousley einmal in der Woche die Geschäfte und das städtische Badehaus besuchen, von einer nicht allzu strengen Wache in gewissem Abstand begleitet. Die Gefangenen können auch in die Kirche gehen und Post versenden und empfangen, nicht zuletzt Pakete von zu Hause. Sie spielen Schach, Bridge und Rugby, und manchmal dürfen sie lange Spaziergänge zwischen den umliegenden Hügeln unternehmen. Mousley hat einen Malariarückfall gehabt und musste einen griechischen Zahnarzt aufsuchen, um seine durch die einseitige Ernährung während der Belagerung angegriffenen Zähne behandeln zu lassen – er hat aber auch wieder zugenommen. Wie viele andere versucht er, gewisse Routinen einzuhalten, etwa sich zum Abendessen umzuziehen, auch wenn das nur bedeutet, ein
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