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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Pfarrer sagte zu ihr: «Es gibt mehr als genug Mütter in Trauerkleidern. Hoffen wir, dass das Ganze bald vorbei ist.» Und erst vor kurzem hörte er in der gleichen Straßenbahn eine Frau aus den besseren Kreisen, gut verpackt in ihren Pelz, mit lauter Stimme zu einem Soldaten sagen: «Jetzt nach dreißig Monaten wärst du nicht da, wo du bist, hätte es nicht Tausende Idioten gegeben, die für die Kriegsparteien gestimmt haben.» Viele Zuhörer schauten verlegen, feixten ein wenig, aber eine Arbeiterfrau, die in Cordays Nähe saß, murmelte: «Sie hat völlig recht.»
    Es sind nicht nur Überdruss und Ermattung, die sich jetzt Ausdruck verschaffen. Der Stimmungswandel ist wohl auch eine Reaktion auf die Friedensinitiativen des vergangenen Monats, erst die des deutschen Reichskanzlers Bethmann Hollweg,  2 dann (nur ein paar Tage später) die des amerikanischen Präsidenten Wilson. Die alliierten Regierungen haben den deutschen Vorschlag entschieden abgelehnt und gegen den zweiten so viele Einwände und Forderungen vorgebracht, dass inzwischen jedem klar ist: Ein Frieden ist nicht so bald zu erwarten.
    Aber das Wort ist wieder da: «Frieden».
    Zur Propaganda für den deutschen Friedensvorschlag gehörte die Publikation eines Briefes des deutschen Kaisers an seinen Reichskanzler, in dem Wilhelm   II. schreibt: «Einen Friedensvorschlag vorzulegen bedeutet, eine moralische Tat zu tun, die notwendig ist, um die Welt – einschließlich der Neutralen – von der Bürde zu befreien, die sie jetzt zu erdrücken droht.» An diesem Tag polemisieren alle französischen Zeitungen gegen den Brief und bezweifeln seine Echtheit. Und der amerikanische Vorschlag wird ebenso mit Hohn quittiert: «Ein Hirngespinst! Illusionen! Größenwahn!» Corday hat gehört, wie jemand den amerikanischen Präsidenten bezichtigte, «deutscher als die Deutschen» zu sein.
    Wie soll man ein gerechtes Bild von den Chancen auf Frieden und der Problematik des Kriegs in einer Welt zeichnen, in der das wichtigste Medium für die Massen, die Presse, streng zensiert wird und sich zudem in den Händen von Propagandisten und Ideologen befindet? Corday findet nicht viel Trost in dem Gedanken, dass die Nachwelt das dicke Knäuel von Gefühlswallungen, fixen Ideen, Übertreibungen, Halbwahrheiten, Illusionen, Sprachspielereien, Lügen und Blendwerk schon entwirren wird. Zwar denkt er oft daran zurück, was eigentlich geschah, im Spätsommer vor zweieinhalb Jahren, als die große Lawine ins Rollen kam, und er sammelt eifrig jeden Faktensplitter über den damaligen Gang der Ereignisse, verstreute und vergessene Spuren an einem längst verlassenen Tatort. Die Frage ist nur, was man im Nachhinein an Erkenntnissen gewinnen kann.
    Im April 1915   schrieb er in sein Tagebuch: «Die Angst vor der Zensur und die Notwendigkeit, den niedersten Instinkten [der Allgemeinheit] zu schmeicheln, bringt sie [die Presse] dazu, nichts als Hass und Beleidigungen abzusondern.» Die Politiker und Generäle, die 1914 die Kriegsstimmung angeheizt haben, sind ihrer eigenen Hysterie zum Opfer gefallen: Sie hat einen Kompromissfrieden undenkbar gemacht; sogar bestimmte taktisch motivierte Rückzüge sind unmöglich geworden, da sie in der Presse und der Öffentlichkeit als symbolische Niederlagen gewertet würden – wie es bei Verdun der Fall war.  3 Aber vielleicht ist doch etwas in Gang gekommen?
    Nein, dass die Zeitungen alles andere als zuverlässige Quellen für künftige Historiker sind, versteht sich von selbst. Aber private Briefe? Auch da hat Corday seine Zweifel. «Briefe von der Front vermitteln ein falsches Gefühl für den Krieg. Der Schreiber weiß, dass sie geöffnet werden können. Und sein erstes Ziel ist es, seinen Lesern zu imponieren.» Und Fotografien? Vielleicht können sie uns vermitteln, wie es eigentlich war, etwa an der Heimatfront? Nein, denkt Corday. Er schreibt in sein Tagebuch:
     
Entweder die Eitelkeit oder die Scham verhindern, dass sich bestimmte Aspekte des Lebens in unseren illustrierten Magazinen widerspiegeln. Die Nachwelt wird also ein bildliches Zeugnis des Krieges vorfinden, das große Mängel hat. Zum Beispiel: Es zeigt uns nicht, dass es in den Häusern fast ganz dunkel ist, wegen der Beleuchtungsvorschriften, es zeigt nicht die traurig verdunkelten Straßen mit Obstläden, die von Kerzen erleuchtet werden, nicht die Mülltonnen, die infolge des Mangels an Arbeitskräften bis etwa drei Uhr nachmittags auf den Bürgersteigen liegen, nicht

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