Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
der eleganten Einkaufsstraße Morskaja bemerkt er deutliche Spuren der Unruhen: Die Schaufenster sind zersplittert, die Läden geplündert, und an den Hauswänden kann man Einschusslöcher erkennen.
Lobanov-Rostovskij weiß natürlich von den Unruhen, die am 8. März begannen, als Frauen auf die Straße gingen, um gegen die Brotknappheit zu protestieren. 7 Auch auf dem Bahnhof in Kiew war es zu sehen: Dort stürmte eine Menschenmenge in den Speisesaal der ersten Klasse und riss mit viel Getöse das Porträt des Zaren von der Wand. Vor drei Tagen hat Nikolaj II. abgedankt. Davon hatte Lobanov-Rostovskij schon am Donnerstag gehört, als er das Krankenhaus verließ – ein Offizier hatte ihm die sensationelle Neuigkeit mitgeteilt, diskret, auf französisch. In seinem Tagebuch hat Lobanov-Rostovskij die Nachricht begrüßt: «Ein neuer Kaiser oder ein energischerer und intelligenterer Regent, und der Sieg ist gewiss.»
Vielleicht ist dies nur eine schwer erkämpfte Hoffnung? Seit Neujahr hatte Lobanov-Rostovskij mit Malaria im Krankenhaus gelegen. Am 15. März, dem Tag vor der Abdankung, wurde er entlassen. Als er sich bei seinem Regiment meldete, erfuhr er, dass er zum Reservebataillon nach St. Petersburg geschickt werden soll. Eine niederschmetternde Nachricht. Er hatte nämlich gehört, dass die Truppen dort auf die Straße geschickt werden, um auf Demonstranten und Streikende zu schießen. Ein Arzt versuchte ihn zu beruhigen und fragte ihn, ob er daran denke, sich deshalb etwas anzutun. Lobanov-Rostovskij hatte seine Zweifel geäußert: «Die Idiotie der Regierung hat diese Revolution verursacht. Das Volk trifft keine Schuld, und doch werde ich nach St. Petersburg geschickt, um auf das Volk zu schießen.» Der Arzt hatte ihn getröstet und ihm einen Rat gegeben: «Folgen Sie einfach dem Strom, dann wird sich alles Weitere finden.»
So kommt Lobanov-Rostovskij zum Hotel Astoria, wo sein Onkel und seine Tante abgestiegen sind. Auch das Hotel zeigt Spuren der Unruhen, sogar von Straßenkämpfen. Die Mauern sind voller Einschusslöcher, die großen Glasfenster im Erdgeschoss zerstört und notdürftig mit Brettern vernagelt. Das Foyer liegt völlig im Dunkeln; die Schwingtüren sind verschlossen. Niemand reagiert, als er anklopft. Er geht zu einer Nebentür, klopft dort an und sieht sich plötzlich von einer Gruppe bewaffneter Matrosen umringt. Sie halten ihm ihre Gewehre auf die Brust und stellen Fragen: Wo sein Pass sei, warum er einen Revolver trage. Einem jungen Marineleutnant gelingt es, die Bewaffneten zu überreden, Lobanov-Rostovskij freizulassen: «Genossen! Lasst den Mann laufen! Er ist gerade angekommen und weiß noch nicht, dass es eine Revolution gegeben hat.»
Lobanov-Rostovskij eilt zurück zum Bahnhof, um dort Tee zu trinken und die Dämmerung abzuwarten.
Gegen acht Uhr unternimmt er einen neuen Versuch. Die Sirenen der Fabriken heulen in der Ferne. Schnee fällt aus dem grauen Morgenhimmel. Die Temperatur ist gestiegen, und die Straßen sind matschig. Sieht man von den Spuren der Kämpfe ab, erscheinen sie fast wie immer, Menschen strömen vorbei, auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Aber etwas ist anders, überall ist Rot zu sehen, sowohl an den Häusern als auch an den Menschen. Die Passanten tragen alle etwas Rotes, eine Rosette oder eine Blume aus Papier oder ein Stück Stoff in einem Knopfloch. Auch die Automobile und die eleganten Pferdekutschen sind rot dekoriert, ebenso Hausfassaden und Fenster – im schwachen Morgenlicht nehmen die großen Tücher beinahe eine schwarze Färbung an.
Diesmal wird Lobanov-Rostovskij ins Hotel eingelassen. Das Foyer bietet einen traurigen Anblick. Überall liegen Glassplitter und zerschlagene Möbel. Die dicken roten Teppiche sind mit gefrorenen Wasserpfützen bedeckt. Menschen strömen hinein und heraus. In einer Ecke steht ein erregter Haufen um einen Tisch herum, an dem für irgendeinen Zusammenschluss radikaler Offiziere geworben wird. Die Heizung funktioniert nicht mehr. Im Haus herrscht die gleiche Temperatur wie draußen auf der Straße. Von seinen Verwandten findet er keine Spur. «Alles schien in Auflösung, und niemand wusste etwas.»
Er konnte damals noch nicht wissen, dass die Zusammenstöße rund um das Luxushotel Astoria zu den blutigsten der gesamten Revolution gehörten. Dort hatten viele höhere Offiziere mit ihren Familien gewohnt, und von dort wurde auf vorbeiziehende Demonstranten geschossen. Diese hatten mit Maschinengewehren das Feuer
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