Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
lähmen.»
134.
Sonntag, 25. Februar 1917
Elfriede Kuhrs Großmutter fällt vor dem Laden eines Pferdeschlachters in Schneidemühl in Ohnmacht
In Elfriedes Straße gibt es einen Schlachter, der Pferdefleisch verkauft. Sein Name ist Herr Johr, und er ist Jude. Elfriede weiß sehr wohl, dass manche Leute die Juden nicht mögen, aber sie gehört nicht zu denen. Einmal hat sie sich sogar mit einem Jungen geprügelt, weil er ihre Freundin Judensau genannt hatte. Es wohnen viele Juden und auch Polen in der Gegend, aber in Elfriedes Augen sind sie alle Deutsche, wenn auch auf unterschiedliche Art.
Wie es das Unglück will, fällt Elfriedes Großmutter heute in Ohnmacht, in der Kälte, vor dem Fleischerladen von Herrn Johr. Die Leute tragen sie in den Laden, und sie kommt allmählich wieder zu sich, auf einem Sofa im Wohnzimmer. Aber sie ist so schwach auf den Beinen, dass Herr Johr sich veranlasst sieht, sie in seinem Wagen nach Hause zu bringen. Elfriede und ihr Bruder bekommen Angst, als ihre Großmutter zum Bett getragen wird, und sie ihr bleiches und kaltes Gesicht sehen. Glücklicherweise ist eine Frau aus der Nachbarschaft zu Besuch da; sie macht eine Tasse Kaffee für die Großmutter. Kaffee, nein, es gibt keinen echten Kaffee mehr, sondern nur Ersatzprodukte, zum Beispiel geröstetes Getreide, aber die Nachbarin gibt echten Zucker in die Tasse statt des üblichen künstlichen Süßstoffs. Elfriedes Großmutter trinkt, und nach einer Weile geht es ihr besser: «Nun ist mir wieder warm, Kinder.»
Warum ist sie ohnmächtig geworden? Arbeitet sie zu viel, wie die meisten anderen? Oder isst sie zu wenig, wie alle anderen?
Die Sorge lässt Elfriede nicht recht los, und als sie ihre Hausaufgabe in Physik lösen muss, geht sie damit ins Schlafzimmer, um die Großmutter im Auge zu haben. Die Schule ist vielleicht nicht das, woran sie zurzeit am meisten denkt. Vor kaum einer Woche ist sie mit einer Freundin zum Schlittschuhlaufen auf einer überfrorenen Wiese unten am Fluss gegangen. Dort wimmelte es von Menschen, die im Kreis herumfuhren, zu den Klängen eines krächzenden Grammophons. Dort ist sie wieder einmal auf Werner Waldecker gestoßen, den jungen Leutnant, den sie zum ersten Mal damals auf der Treppe bei der großen Schwester ihrer Klassenkameradin traf und dem sie später zufällig auf der Straße begegnet ist, eine Begegnung, die damit endete, dass er ihre Hand küsste und sagte, er hoffe sie wiederzusehen. Was dann tatsächlich geschah, vor fünf Tagen, auf der eisbedeckten Wiese. Und als es dunkel wurde, hatte er sie in die Konditorei Fliegner eingeladen. Windbeutel gab es nicht mehr, aber sie hatten Glühwein getrunken und süße Brezeln gegessen, und sie war sehr glücklich gewesen. Danach hatte Leutnant Waldecker sie nach Hause gebracht und versucht, sie auf der Treppe zu küssen. Da war sie nur scheu ausgewichen und ins Haus verschwunden. Hinterher hatte sie es bereut.
Auf der Kriegskarte, die im Klassenzimmer hängt, ist zur Zeit keine Bewegung. In Afrika und Asien ist seit Wochen nichts Erwähnenswertes passiert. Gestern haben 280 Mann in Likuju in Deutsch-Ostafrika kapituliert, und die Briten haben einige türkische Stellungen südwestlich von Kut al-Amara in Mesopotamien eingenommen – das war alles. Auch in Italien und auf dem Balkan ist es ruhig. An der Westfront geschieht auch nichts Neues, außer einzelnen Überfällen. Nur die Ostfront versorgt die Zeitungen mit mehr als Randnotizen, dort konzentrieren sich alle Kampfaktivitäten seit Monaten auf ein einziges Gebiet: Rumänien. Der Teil der Karte ist jetzt übersät mit all den kleinen schwarz-weißroten Flaggen, aber es könnte auch gerne bald ein größerer Sieg kommen. Der letzte war am 6. Dezember. Da ist Bukarest gefallen, und die Kinder erhielten schulfrei. Elfriede hat das unerwartete Geschenk genutzt, um spazieren zu gehen.
135.
Sonntag, 18. März 1917
Andrej Lobanov-Rostovskij versucht, sich im Hotel Astoria in St. Petersburg einzuquartieren
«Folgen Sie einfach dem Strom.» Es ist zwei Uhr morgens und bitter kalt. Lobanov-Rostovskij trägt seinem Burschen Anton auf, sich um das Gepäck zu kümmern, und begibt sich selbst zum Hotel. Vor dem Bahnhof stehen seltsamerweise weder Automobile noch Pferdedroschken, er muss also zu Fuß gehen. Aber irgendetwas stimmt nicht. Auf den dunklen Straßen begegnet er bewaffneten Patrouillen, die ihn misstrauisch mustern. Er kommt an einer niedergebrannten Polizeiwache vorbei. Auf
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