Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Buchanan und die anderen ins Tal hinuntersteigen, warten dort schon deutsche Spähtrupps. Es kommt zu Schusswechseln. Die Briten ziehen sich auf die Höhe zurück. Bald wird klar, dass das Bataillon, das links von ihnen vorgerückt war, in Kämpfe verwickelt worden ist, und die 25 th Royal Fusiliers erhalten den Befehl, sich auf dem Höhenkamm einzugraben.
So vergehen der Vormittag und die Mittagsstunden.
Doch um zwei Uhr geschieht etwas.
Aus weniger als dreißig Metern Entfernung eröffnen die Askaris plötzlich das Feuer mit Gewehren und Maschinengewehren. Unbemerkt haben sie sich durch die Büsche und das hohe Gras angeschlichen. Buchanan vergleicht das Geräusch mit einem kräftigen Donnerschlag.
Später fällt es ihm schwer, ein klares Bild des Geschehens zu vermitteln, denn als der Nahkampf begonnen hatte,
verlor man jedes Zeitgefühl, überhaupt jedes Gefühl, außer dem Empfinden, dass sich etwas Großes ereignete, etwas, das von lebendiger Energie erfüllt war und in geradezu fiebrigem Tempo passierte.
Die Briten können von Glück reden, dass die Angreifer einen Fehler machen, der bei Gefechten in dichter Vegetation häufig vorkommt. Man zielt instinktiv ein wenig zu hoch, und die Kugeln gehen zumeist über die feindlichen Köpfe hinweg. Diesmal ist das allerdings nur bedingt von Vorteil. Einige der peitschenden Kugelsalven treffen Bienenstöcke, die in den Bäumen hängen, und die wütenden Insekten gehen zum Angriff über. Ihre Stiche sind besonders schmerzhaft, und der sonst so zurückhaltende Buchanan schreibt, dass die Schmerzen «uns jetzt beinahe wahnsinnig machten». Solche Vorfälle hat es gerade im Krieg in Ostafrika schon mehrfach gegeben. Einmal hat Buchanan sogar einen Mann gesehen, der von stechenden Insekten so zugerichtet wurde, dass er buchstäblich den Verstand verlor.
Gegen Abend ist der Kampf vorüber. Die Angreifer haben sich zurückgezogen. Die 25 th Royal Fusiliers bleiben auf dem Höhenzug. Die britischen Soldaten sind von gelblichen Beulen übersät, und viele haben so stark geschwollene Gesichter, dass sie kaum noch sehen können. Morgen werden sie nach Lindi zurückkehren.
149.
Donnerstag, 14. Juni 1917
Michel Corday geht in der Abendsonne über einen Pariser Boulevard
Es ist mehr als nur eine Variation; ein neues Thema ist hinzugekommen. Und das hat natürlich mit dem Kriegseintritt der Amerikaner zu tun. Michel Corday ist in der Deputiertenkammer und hört René Viviani reden. Er hat keine besonders hohe Meinung von ihm, er erscheint ihm nicht nur als ein kraftloser Politiker, von dem es heißt, er sei drogensüchtig. Besonders missfällt ihm Vivianis Verhalten zu Beginn des Krieges. Der Sozialist Viviani war damals französischer Premierminister und unternahm nichts, um die Katastrophe zu verhindern, vielmehr setzte er sogar die Entscheidung für die Kriegskredite durch.
Vivianis Zeit als Machtpolitiker ist schon vorüber. Aber seine großen rhetorischen Fähigkeiten werden noch immer gebraucht. Er versteht es meisterhaft, kunstvolle und provozierende Phrasen zu dreschen. Und wie immer zählt die Form beinah mehr als der Inhalt. Für Corday ist seine Rede «ein rhetorischer Triumph». Wie alle anderen singt er die alte Leier vom «Kampf bis zum bitteren Ende». Doch etwas ist hinzugekommen, das Corday aufhorchen lässt. Der Krieg hat hier ein neues Ziel, einen neuen Sinn, eine neue Rechtfertigung bekommen. Sein wirklicher Zweck nämlich sei es, dass «die Söhne unserer Söhne ihr Leben nicht in ähnlichen Konflikten verlieren». Sie führen also einen Krieg, der gleich allen Kriegen ein Ende bereiten soll. Feiner Slogan.
Gegen sieben Uhr abends spaziert Corday in der tiefstehenden, warmen Sonne einen Boulevard entlang. Das bunte Treiben spiegelt den Krieg in mehrfacher Weise wider. Er sieht
Prostituierte mit Hüten, groß wie Sonnenschirme, kniekurzen Kleidern, entblößten Brüsten, durchsichtigen Strümpfen und geschminkten Wangen, junge Offiziere mit aufgeknöpftem Hemdkragen und prächtigen Ordensbändern, alliierte Soldaten, die muskulösen Briten, die harmlosen Belgier, die unglücklichen Portugiesen, die Russen mit ihren imponierenden Marschstiefeln, junge Männer in engen Waffenröcken.
Corday begegnet auch einer ganz neuen Erscheinung, nämlich einem bettelnden Soldaten. Man trifft sie jetzt häufiger in Restaurants und Cafés an. Oft tragen sie Orden auf der Brust, feine Orden wie das Croix de Guerre, das für Heldenmut im
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