Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
warm.
Es geht wieder aufwärts, über einen Kamm. Und dort erreicht Monelli die Stellung der Kompanie. Stellung? Nur einige geschwärzte Felsvorsprünge und große Steinhaufen, hinter denen sie in Deckung gehen, stumm, mit großen Augen, völlig reglos in dem wüsten Geschützfeuer, nur mehr körperlich existent. Ein junger Soldat erblickt Monelli, warnt ihn, steht auf, winkt ihn zu sich in Deckung, wird aber im selben Augenblick von einem Projektil in die Brust getroffen und bricht zusammen.
Später suchen Monelli und sein Bataillonschef den Brigadestab. Sie finden ihn schließlich in einer Aushöhlung. Der mit Sandsäcken verdeckte Höhleneingang ist wie immer versperrt von Leuten, die hier Zuflucht suchen vor dem unablässigen Artilleriefeuer. Es ist so eng, dass sie auf Arme, Beine und Körper treten, doch niemand scheint zu reagieren. Der Stab ist im hintersten Teil des Höhlenraums untergebracht. Dort ist es dunkel und vollkommen still. Wenn Monelli und sein Bataillonschef geglaubt hatten, die Meldung, dass zwei Bataillone als Verstärkung eingetroffen seien, würde mit Dankbarkeit oder gar Jubel aufgenommen, so haben sie sich getäuscht. Die Offiziere des Stabes sind ahnungslos und begrüßen sie «ohne Begeisterung». Die Stimmung in der dunklen, kühlen Höhle ist düster, ja von Resignation geprägt, dem Gefühl, dem Geschehen unausweichlich ausgeliefert zu sein. Der Brigadekommandeur sagt schicksalsergeben: «Wie Sie sehen, sind wir vom Feind umringt, er kann mit uns machen, was er will.»
Sie verlassen den Stab mit einem Angriffsbefehl, den der Brigadekommandeur sozusagen aus der Hüfte geschossen hat. Monelli glaubt, dass jemand ganz oben – vielleicht der Kommandierende General? – im Begriff ist, die Nerven zu verlieren, denn die Instruktionen, die sie erreichen, sind immer widersprüchlicher. Wenn sie sie überhaupt erreichen, denn in dem ständigen Artilleriebeschuss werden die Telefonleitungen ungefähr alle fünf Minuten unterbrochen. Dann werden Männer hinausgeschickt, um mitten im Kampfgetöse nach der Bruchstelle zu suchen und sie zu reparieren. Die gefährlichste Tätigkeit auf dem Ortigara ist die des Fernmelders.
Aber nicht nur die Fernmelder sind Opfer einer der vielen Paradoxien des Krieges: Die Zerstörungskraft der Armeen hat in viel höherem Maß zugenommen als die Möglichkeiten der Generäle, ihre Armeen zu kontrollieren. In großen Schlachten bricht fast immer die Kommunikation zusammen, und die Kämpfe sind kaum mehr als ein blindes Gestochere in den Rauchwolken der Geschütze. 19
Die Dunkelheit bricht herein. Drei Gerüche erfüllen die Luft: der beißende Geruch explodierenden Sprengstoffs, der süßliche Gestank von Verwesung und der säuerliche Geruch menschlicher Exkremente. Alle verrichten nämlich ihre Notdurft da, wo sie hocken oder liegen, ziehen vor den Augen der anderen die Hosen herunter.
In dieser Nacht greift eine der Kompanien Höhe 2003 an und nimmt sie ein.
***
Drei Tage später erobern die Österreicher die Höhe zurück.
152.
Samstag, 30. Juni 1917
Paolo Monelli kehrt vom Ortigara zurück
Fünf Tage hat er dort oben überlebt. Zeitweilig sind sie aus sämtlichen Himmelsrichtungen gleichzeitig beschossen worden. Es hat Momente gegeben, da schien der Berg von heftigen Stromstößen geschüttelt zu werden; die Erde hat gebebt, geknistert, gezischt. Sie haben mit den Toten, von den Toten gelebt – haben ihre Munition benutzt, ihr Essen verzehrt, aus ihren Wasserflaschen getrunken, haben sie als Kugelfang aufgestapelt, haben sich auf sie gestellt, um nicht an den Füßen zu frieren. Nach zwei Tagen hatten sie die Hälfte ihrer Mannschaft verloren, die Männer waren gefallen, verwundet oder hatten ein Kriegstrauma erlitten. Monelli hat gehofft, dass vielleicht jeder Zehnte überleben würde, und dass er einer von ihnen sei. Wenn die feindliche Artillerie eine Pause einlegte, hat er nach Hoffnung verheißenden Zeichen gesucht, indem er aufs Geratewohl seinen Taschen-Dante aufschlug.
Und er hat überlebt.
Monelli schreibt in sein Tagebuch:
Stummes Erstaunen darüber, neu geboren zu sein, im offenen Zelt in der Sonne zu sitzen und neue Eindrücke aufzunehmen. Das Leben ist etwas Gutes, das man unter Schweigen mit gesunden Zähnen in sich hineinkaut. Die Toten sind ungeduldige Kameraden, die in Eile zu unbekannten Missionen aufgebrochen sind; aber wir spüren, wie uns die Sanftmut des Lebens erreicht. In einer angenehmen Familienerinnerung
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