Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
dreifaches Hoch für «Seine Majestät, unseren obersten Kriegsherrn». Anschließend werden zwanzig Eiserne Kreuze an Teilnehmer der Schlacht verteilt, mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip.
Wie üblich ist Stumpf verwirrt, gespalten und zornig. Er spürt die Energie des Redners, die Kraft seiner Worte packt ihn, und es ergreift ihn mehr so ein Gefühl, dass manches vielleicht zutrifft. Aber sobald das Gefühl ihn in die eine Richtung zieht, drängt sein Verstand in die andere. Er versteht sehr wohl, warum der Kommandant solche Meinungen vertritt; vielleicht würde er selbst genauso denken, wenn er Offizier wäre. Doch er ist nur ein einfacher Matrose, ein «besitzloser Prolet», wie er selbst sagt, und als solcher kann er unmöglich einer «Ausdehnung der Herrschergewalt, einer Vermehrung des Heeres, einer Vergrößerung der Marine» zustimmen. Ja, «wer nicht mitzubezahlen braucht, hat leicht reden». Stumpf fürchtet sich nicht vor einem parlamentarischen System. Er ist der Ansicht, dass es unter den feindlichen Führern viele gute Leute gibt. Nein, zur Zeit will er «lieber den Engländern Sklave als den Deutschen Soldat» sein.
Die Unruhe und Enttäuschung, die sich seit Kriegsausbruch in ihm aufgestaut haben, sind nur zum Teil der Frustration wegen der knochenharten Disziplin oder der kolossalen Langeweile an Bord geschuldet. In ihm rumort auch ein Zorn auf Deutschlands gegenwärtigen Zustand, auf das, was Stumpf als seinen Grundpfeiler, seinen Kern und sein Wesen betrachtet: das Klassensystem. Letztlich ist es diese Frage, die den Ultrapatrioten von 1914 in wenigen Jahren zum zornigen Radikalen gemacht hat.
Der Krieg hat sich zu etwas entwickelt, was kaum jemand vorhersah und nur die wenigsten erhofft haben. Nicht zuletzt hat er das Klassensystem demaskiert: ein paar Jahre des Unfriedens, und schon ist geschehen, was Jahrzehnte sozialistischer und anarchistischer Propaganda nicht geschafft haben, nämlich die Lügen, Heucheleien und Paradoxien der alten Ordnung zu entlarven. An keinem anderen Ort treten diese so krass zutage wie in der deutschen Hochseeflotte.
Mannschaften und Offiziere leben auf engstem Raum zusammen, sitzen buchstäblich im selben Boot. Gleichzeitig unterscheiden sich ihre Lebensumstände auf groteske Weise. Das gilt für alles, vom Essen über die Unterbringung (die Kabinen der Offiziere sind eingerichtet wie die Villen der höheren Stände, mit orientalischen Teppichen, gepolsterten Ledersesseln und teuren Kunstgegenständen) bis zu den Arbeits- und Urlaubsbedingungen (während die Matrosen selten Heimaturlaub bekommen, können sich die Offiziere manchmal monatelang von ihrem Dienst befreien lassen, und wenn das Schiff im Hafen liegt, übernachten die Offiziere oft in ihren eigenen Häusern). Die Enge, die nun einmal auf einem Schiff herrscht, hat die Unterschiede auf eine neue Weise sichtbar gemacht. Gleichzeitig hat das Ausbleiben von Aktivität – man kann auch sagen: von Blutvergießen – dazu geführt, dass die Verhältnisse in Frage gestellt werden.
Im Heer liegen die Dinge anders. Auch dort sind die Unterschiede offensichtlich, sie treten aber aus praktischen Gründen nie so deutlich in Erscheinung. Und dort lassen sie sich zum Teil immer noch mit dem Verweis auf die hohen Anforderungen und Opfer des Militärdienstes entschuldigen. Niemand in diesem Krieg lebt gefährlicher als ein Infanterieoffizier der unteren Dienstgrade. 15 Aber hier, in der unbeweglichen Hochseeflotte, sind die Anforderungen an die Offiziere gering und ihre Opfer noch geringer. Was also begründet ihre Privilegien, wenn nicht die Tatsache, dass sie einer privilegierten Klasse angehören? Und könnte es nicht sein, dass alles hochtönende Gerede von Ehre, Pflicht und Opfern am Ende nur dazu dient, die Masse der Menschen kleinzuhalten?
Auch bei der Feier des Jahrestages beobachtet Stumpf, wie sich das Klassensystem manifestiert. Die Offiziere bleiben in ihrer üppig eingerichteten Messe natürlich unter sich und feiern ein Trinkgelage bis morgens um vier Uhr. Den Matrosen wird nicht viel mehr angeboten als «ein paar Fässer schales Bier», und ihr Fest findet oben an Deck statt. Was Stumpf am meisten ärgert, ist aber nicht die Tatsache, dass die Offiziere so viel bekommen und die Mannschaften so wenig. An diesem Abend stört ihn vor allem, dass viele Matrosen immer noch bereit sind, sich vor ihren Herren (die auf sie herunterschauen) zu erniedrigen:
Die Messe glich einem Irrenhaus.
Weitere Kostenlose Bücher