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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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den Granateinschlägen, auf irgendeinen Gipfel oder über die felsigen Höhenrücken. Aber meistens hat die Infanterie allein die Aufgabe, sich an einem Punkt festzubeißen, der nahezu willkürlich ausgewählt erscheint, in der kartographischen Wirklichkeit des Generalstabs und der Scheinwelt der Siegeskommuniqués aber sehr wohl seine Bedeutung hat. Oft handelt es sich um Orte, denen Gott oder die Landvermesser eine Höhenziffer gegeben haben, die dann in die Karten Einzug findet, als 2003 oder 2101 oder 2105, Ziffern, die sich auf wundersame Weise in «Höhen» verwandeln, die es zu verteidigen oder zu erobern gilt.  18
    Es sieht schlecht aus an diesem Morgen. Als Monelli in der Dämmerung erwacht, ist das Dröhnen des Artilleriefeuers stärker denn je. Er kriecht aus seinem Schlafsack und geht nach draußen. Nach einiger Zeit erhält das Bataillon den Befehl, sich zu sammeln. Eine lange Reihe schweigender, schwer bepackter Männer bewegt sich sodann aufwärts, auf einem schmalen Pfad, der eine hohe, steile Felswand entlang verläuft. Die Sonne beginnt ihre Wanderung über den blauen Himmel. Es scheint ein warmer Tag zu werden.
    Die Gesichter der Soldaten verrieten, so Monelli, «eine ruhige Schicksalsergebenheit angesichts des Unausweichlichen». Er selbst versucht, seine Gedanken möglichst auszuschalten und sich in praktische Details zu vertiefen, was ihm recht gut gelingt. Als er einem Untergebenen einen Befehl erteilt, stellt er erfreut fest, dass seine Stimme fest und entschieden klingt. Er geht in sich. Hat er irgendwelche Vorahnungen? Nein, aber eine Gedichtzeile des Nobelpreisträgers Giosuè Carducci hat sich in seinem Kopf festgesetzt: Venne il dì nostro, e vincere bisogna – «Unser Tag ist gekommen, und wir müssen siegen.» Und Monelli meint, er habe sich in ein Werkzeug verwandelt, ein gutes und starkes Werkzeug, das von einer äußeren Macht gelenkt wird. Er sieht eine Kolonne von Mauleseln auf dem Weg. Er sieht die Explosionswolken der Schrapnells, schwarz und orange gefärbt.
    Schließlich gelangen sie zu einer Höhle, die sich zur Front hin öffnet. Der Ausgang der Höhle steht unter Beschuss. Telefonisten und Artilleristen drücken sich gegen die kalten Wände, um Monelli und die anderen passieren zu lassen. Sie betrachten ihn und die übrigen Gebirgsjäger mit forschenden Blicken, die Monelli irritieren und die er zu ignorieren versucht. Doch der Gedanke drängt sich auf: «Herrgott, so schlimm ist es also!»
    Der Hauptmann sagt nur ein Wort: Andiamo! Vorwärts.
    Dann nehmen sie Anlauf und rennen einer nach dem anderen in dichter Folge hinaus ins Freie, als würden sie sich von einem Sprungturm herabstürzen. Die österreichischen Maschinengewehre auf der anderen Seite beginnen zu rattern. Monelli läuft vorwärts, abwärts. Er sieht, wie ein Mann von einem großen Granatsplitter am Kopf getroffen wird und dass der Boden mit kleinen Kratern übersät ist. Er sieht an manchen Stellen Leichenhaufen – und denkt sich: da ist es besonders gefährlich. Er geht hinter einem Felsvorsprung in Deckung, schöpft Atem. «Das ganze Leben vor Augen in einem Moment der Reue, eine Vorahnung, die voller Schrecken sofort weggewischt wird.» Dann nimmt er Anlauf, wirft sich nach vorn, ein paar Kugeln zischen vorbei – «zio, zio» – und er ist durch. Er sieht, dass der Hauptmann liegen bleibt.
    Man hat sie vor Gasangriffen gewarnt, und er zwängt sich die Gasmaske über. Doch nach nur fünf Minuten reißt er sie wieder herunter. Damit zu laufen ist unmöglich. Sie marschieren weiter in die nächste Talmulde. Sie ist übersät mit toten Körpern aus den Kämpfen des Vorjahrs, die jetzt kaum mehr sind als mit Fetzen bekleidete Skelette, aber auch mit ganz frischen Leichen, noch warm und blutend – jetzt alle vereint in demselben zeitlosen Zustand. Monelli erreicht die nächste gefährliche Passage. Ein österreichisches Maschinengewehr liegt auf der Lauer und eröffnet das Feuer auf alle, die sich vorbeiwagen. Sechs, sieben Mann sind kürzlich hier erschossen worden. Er sieht einen Soldaten, der zögert weiterzugehen; sein Kamerad ist gerade getroffen worden. Der Zögernde redet davon, umzukehren, aber der Rückweg ist genauso gefährlich. Monelli sieht, wie er sich bekreuzigt und sich den felsigen Abhang hinabstürzt. Das Maschinengewehr rattert. Der Mann kommt durch – und läuft, springt, purzelt weiter hinunter. Monelli tut es ihm gleich.
    Es ist jetzt gegen zwölf Uhr. Die Sonne scheint. Es ist

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