Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
korrekt? Möglicherweise ist das deutsche Memorandum, das der Antwort an den Papst beigefügt war, gefälscht? Vielleicht gibt es eine geheime Verhandlungsstrategie? Vielleicht, möglicherweise, hoffentlich.
Worte und Gedanken wandern hin und her in dem behaglichen Raum, und die Stunden vergehen. Bald bricht die Dämmerung an. Ein großer Mond geht auf und färbt die herbstliche Landschaft silbern und weiß.
164.
Samstag, 13. Oktober 1917
Harvey Cushing listet die Fälle des Tages auf
Das schlechte Wetter hält an. Es regnet beinahe unaufhörlich, der Wind erreicht fast Sturmstärke. Auch diesen Tag verbringt Cushing am Operationstisch. Am Freitag um 5.25 Uhr begann bei Ypern ein neuer Angriff, trotz des miserablen Wetters, des steigenden Wassers, des schlammigen Bodens, der schlechten Sicht. Überlebende berichten Cushing von Verwundeten, die in Granattrichtern ertrunken sind.
Er beginnt den Vormittag damit, die Fälle durchzugehen, die ihn erwarten:
Winter, E. 860594. 7. Borderers, 17. Div. – Penetr. Zerebellar. Saß. Helm auf. Wurde in die Luft gesprengt. Eine Zeitlang bewusstlos, weiß nicht, wie lange. Kroch später zurück in einen Schützengraben – unsicher auf den Beinen –, Schwindel, etc.
Robinson, H. 14295. 1. Südafrikan. Inf., 9. Div. Penetr. re Temporal. Wurde gestern ca. 18.00 Uhr verwundet. Umgeworfen, aber nicht bewusstlos. Helm penetriert. Ging knapp 20 Meter – Schwindel – Erbrechen – Taubheit linker Arm, etc. Wegen Schlamm kein Transport vor heute früh.
Matthew, R. 203037. 8. Black Watch – Penetr. Re Parietal; hernia cerebri. Glaubt, dass er vor drei Tagen verwundet wurde, etc. Ein prächtiger großer Schotte.
Hartley, J. 26. M.G.C., 8. Div. Um 11.00 Uhr die Nacht verwundet, nicht bewusstlos. Ging zum Verbandsplatz. Glaubt, dass sie ihr Ziel erreichten, etc.
Bogus. 3. N.Z. Rifle Brigade, 1. Anzac. Frontale äußere längliche Wunde. War zwei Nächte in der vordersten Linie, bevor es losging – schreckliche Umstände. Als er verwundet wurde, war er 900 Meter vorangekommen, etc.
Beattie. 7. Seaforths, 9. Div. Sanitäter, verwundet, als er seinen dritten Mann holte – 4 pro Trage – knapp 300 Meter von der vordersten Linie. Okzipetal Penetr. (?)
Medgurck. 11. Royal Scots, 9. Div. Multiple Wunden, inkl. Kopf, etc.
Dobbie. Household Batt’n., 4. Div. Irgendwann gestern Nachmittag in der Nähe von Poelcapelle verwundet. Hier aufgen. 19.00 Uhr. Seitdem in Resus. Ernst. Zum Röntgen, etc.
Am Ende des Tages ist Cushing zufrieden. Die Operationen sind gut verlaufen. Unter anderem ist es ihm gelungen, drei Männern mit der speziellen Magnetvorrichtung Splitter aus dem Gehirn zu entfernen.
Cushing erkennt, dass der Angriff kein Erfolg war; die Verwundeten strömen nur so herein. Keiner hat jedoch neue Zeitungen oder offizielle Kommuniqués gelesen. Es ist unmöglich zu erfahren, was eigentlich geschehen ist.
***
Zwei Tage später ist es wieder ziemlich ruhig bei Ypern. Der Himmel klart auf. Angeblich wurden drei britische Divisionen so schlimm zugerichtet, dass sie aus dem Kampf genommen werden müssen, und es heißt, Verstärkung von der 2. Armee sei auf dem Weg. Am Nachmittag sieht Cushing Tausende und Abertausende von Zugvögeln, die sich in Schwärmen bei einem kleinen Wald in der Nähe des Feldlazaretts sammeln. Jemand sagt, dass es Stare sind.
165.
Mittwoch, 24. Oktober 1917
Michel Corday hört in Paris Gespräche auf der Straße
Ein vierter Kriegswinter steht bevor, und die Menschen in Paris sind resignierter als noch vor einem Jahr. Aber es fehlt nicht mehr an so vielem. Wer Geld hat, kann alles bekommen. Die Schwarzmarkthändler werden immer zahlreicher, immer reicher und immer schamloser. Viele gute Restaurants haben hochdekorierte Veteranen und Kriegsinvaliden als Kellner eingestellt, und Corday fragt sich, was ihnen durch den Kopf geht, wenn sie dort stehen und Leuten die Tür aufhalten müssen, die kaum mehr sind als «ein voluminös verkörperter Appetit, der an seinen Trog eilt». Corday notiert in seinem Tagebuch:
Auf der Straße hört man die Menschen über ihre kleinen Pläne reden. Die Leute sagen oft: «Nach dem Krieg werde ich …», im selben ruhigen Ton, wie sie sagen: «Nach dem Duschen werde ich …» Sie setzen dieses weltumstürzende Geschehen mit einer Naturkatastrophe gleich. Sie kommen nicht auf den Gedanken, dass sie selbst es aufhalten könnten, dass seine parasitäre Existenz auf ihrer Zustimmung
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