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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Martha. Leider ist aber seine/ihre Geliebte bereits mit einem Major verheiratet, sodass es bei einem platonischen Liebesverhältnis bleiben muss.
    Damit ist sie zurzeit beschäftigt. Es kommt vor, dass sie wie früher zum Bahnhof hinuntergeht, um ihrer Großmutter in der Kantine des Roten Kreuzes zu helfen oder nur den Truppentransporten und Lazarettzügen zuzusehen. Aber das geschieht immer seltener. Die Linien mit schwarz-weiß-roten Flaggen auf der Kriegskarte im Klassenzimmer interessieren sie nicht mehr. In der Schule reden sie selten von dem Geschehen an der Front; nur wenn jemand einen Freund oder Verwandten verloren hat. Schon lange hatten sie kein Schulfrei mehr, um einen Sieg zu feiern. Der Krieg, schreibt Elfriede in ihr Tagebuch, ist fast
     
schon so etwas wie ein Dauerzustand geworden […]; man kann sich nicht mehr daran erinnern, wie es im Frieden war. Wir denken kaum noch an den Krieg.

163.
    Freitag, 28. September 1917
    Michel Corday besucht Anatole France in Tours
     
    Um die Mittagszeit hält der Zug im Bahnhof von Tours. Er steht auf dem Bahnsteig, Anatole France, ein älterer korpulenter Herr mit kurzem weißem Bart und einer roten Mütze auf dem Kopf. Sie fahren mit ihm im Auto nach La Béchellerie, dem Landgut des Schriftstellers, wundervoll gelegen auf einem kleinen Hügel zwei Kilometer außerhalb von Tours.
    Der Krieg ist für den alten Mann eine Prüfung gewesen. Nicht dass es ihn persönlich getroffen hätte, er hat keine Verwandten an der Front. Wie so viele andere war er im August 1914 nach Süden gezogen, fort von der offenbar unaufhaltsamen deutschen Armee, um hier an einem Nebenfluss der Loire ein beschauliches Leben zu führen. Nein, vielmehr hatte der Krieg alles zunichte gemacht, woran er einmal geglaubt hat.
    Gerade diesen alten Mann musste der Gang der Ereignisse besonders schmerzen, war er doch den wohlklingenden Beifall gewohnt, und wurde nun so plötzlich mit Grobheiten und Drohungen konfrontiert. Nur weil er an seinen früheren Überzeugungen festhielt und sich 1914 weigerte, bei der schlimmsten Kriegshetze mitzumachen. Überrumpelt und verängstigt hatte sich France als 71-Jähriger freiwillig gemeldet, was allgemein nur Gelächter hervorrief. Jetzt wird France weniger verfolgt als vielmehr ignoriert. Er meldet sich hin und wieder zu Wort, findet aber keine Resonanz. Corday hat den Eindruck, dass France den Glauben an die Menschheit vollends verloren hat. Aber der große Dichter kann nicht aufhören, über das nachzudenken, was zurzeit geschieht. Corday hat er erzählt, er stelle sich manchmal vor, dass der Krieg ewig weiterginge, und dieser Gedanke bringe ihn fast um den Verstand.  28
    Als sie La Béchellerie erreichen, wird zum Essen gebeten. Das massive Gebäude aus dem 17. Jahrhundert ist bis oben hin mit Dingen angefüllt, die der manische Sammler France im Laufe der Jahre herangeschleppt hat. Einen anderen Besucher des Hauses erinnert es an einen «Antiquitätenladen». Mitten im Salon steht ein vergoldeter Venustorso. Am Essen nehmen auch andere Gäste teil, unter anderem ein Tuchhändler aus der Stadt. Wie France ist auch dieser Mann sehr pessimistisch, was die Zukunft betrifft:
     
Die überwältigende Mehrheit in Tours will, dass der Krieg weitergeht, wegen der hohen Löhne für die Arbeiter und der größeren Profite für die Kaufleute. Die Bourgeoisie, mental gefüttert von den reaktionären Zeitungen, ist ganz vom Gedanken eines endlosen Krieges beseelt. Kurz gesagt, erklärt er, Pazifist sei man nur an der Front.
     
    Sie verbringen den Nachmittag in der Bibliothek, die sich in einem kleinen Gebäude im Garten befindet. Unausweichlich wendet sich das Gespräch dem Thema Krieg zu, dieser Wunde, an die zu rühren keiner von ihnen verzichten kann oder will. Sie diskutieren die Friedensinitiativen des letzten Jahres, die deutsche, die amerikanische, und natürlich auch das, was der Papst in Rom im vorigen Monat geäußert hat.  29
    Man ahnt die besondere Atmosphäre. Eine Gruppe kultivierter Menschen, versammelt in einem Raum, der mit Büchern gleichsam befestigt ist, Menschen wie France und Corday, sensible, gebildete und radikale Humanisten, die wie Fremde in der eigenen Zeit leben, aufgewühlt und verwirrt von Ereignissen, die sie nicht verstehen, und Kräften, die sie nicht beherrschen können. Sind jetzt wirklich alle Wege zum Frieden versperrt? Sie suchen nach Zeichen der Hoffnung. Ist die Übersetzung der Antwort Präsident Wilsons womöglich nicht

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