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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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beruht.

166.
    Sonntag, 28. Oktober 1917
    Harvey Cushing sieht den kanadischen Aufmarsch vor Zonnebeke
     
    Leichter Nebel. Sonnendunst. Dünne Wolken. Kühle Luft. Nichts in ihm bejaht den Krieg. Im Gegenteil. Seine tägliche Arbeit besteht darin, die Wracks zusammenzuflicken, die der Krieg hervorbringt und die in sein Feldlazarett gespült werden. Die Erfahrung hat ihm auf drastische Weise bewusst gemacht, wie hoch der Preis ist. Es vergeht fast kein Tag, an dem er nicht Blut und Hirnmasse von seinen Händen wäscht. An die Annehmlichkeiten eines Lebens in der Bostoner Oberschicht gewöhnt, findet er vieles äußerst unangenehm: die ständige Nässe, das eintönige Essen, die Kälte, die es zuweilen schwer macht, in dem dünnen Zelt zu schlafen. Er hat eine eigene faltbare Badewanne mitgebracht.
    Der Preis, ja. Cushing ist auch entsetzt über die materielle Verschwendung. Es gibt Schutzräume, deren Fußboden aus zahlreichen Schichten ungeöffneter Konserven besteht. An einer Stelle hat man 250 Wathosen aus Gummi gefunden, für den Gebrauch in den am stärksten überschwemmten Schützengräben bestimmt; sie waren von irgendeinem Verband nur einmal benutzt und anschließend einfach liegen gelassen worden. Die Soldaten werfen alles Unnötige oder Schwere fort, bevor sie in den Kampf gehen, denn sie wissen, dass sie es, wenn sie überleben, als im Kampf abhandengekommen melden können und ohne Probleme Ersatz erhalten. Überall liegen fortgeworfene Gewehre; sie werden als Wegweiser oder als Stützen in den Schützengräben verwendet oder verrosten einfach. In einem fünfminütigen Feuergefecht an einem kleineren Frontsektor wird Munition für 80   000 Pfund verschossen.
    Außerdem hat er zu viel gehört und gesehen, um die britische Kriegführung hier bei Ypern nicht kritisch zu betrachten. Etwa die Geschichte, die ihm vorgestern einer seiner Patienten erzählte, ein Unteroffizier aus der 50. Division. Der junge Mann lag zitternd in seinem Bett, paffte eine Zigarette. Sein Bataillon hatte sich in der Nacht im Regen verirrt, und man versuchte, sich einzugraben. Aber der Untergrund war zu schlammig, und das Einzige, was man tun konnte, war, Erde aufzuhäufen und dahinter in Deckung zu gehen. Nachdem sie zweimal Order erhalten hatten, in der Dunkelheit weiter vorzustoßen, kam schließlich der Befehl zum Angriff, und sie versuchten tatsächlich, dem Sturmfeuer zu folgen. Dieses wurde allerdings zu schnell verlagert. Und plötzlich standen sie vor deutschen Betonbunkern. «Kaum einer überlebte.»
    Cushing will einfach nicht begreifen, warum ein Angriff nicht abgeblasen werden kann, wenn beispielsweise das Wetter zu schlecht ist. Er hat diese Frage einmal einem hohen britischen Offizier gestellt und die Antwort erhalten, dies sei leider nicht möglich. Nicht so kurzfristig. Außerdem sei die Organisation zu groß, die Planung zu kompliziert. Allzu groß, allzu kompliziert, gewissermaßen jenseits aller menschlichen Kontrolle. Ein Sinnbild des Krieges an sich.
    An diesem Sonntag ist es jedoch recht ruhig. Nur einzelne Verwundete kommen herein. Aber die Schlacht ist noch nicht vorüber. Neue Angriffe werden vorbereitet. Ein Bekannter in der 2. Armee hat ihm zuvor versprochen, ihn zur Front zu begleiten, und heute scheint ein guter Tag für eine solche Exkursion zu sein. Die beiden werden bei einer der vielen Kontrollen registriert, wechseln das Fahrzeug und fahren mit einem Sanitätswagen über Poperinghe nach Ypern. Der Verkehr wird dichter, je näher sie der Stadt kommen. Im Schlingerkurs bewegen sie sich auf der matschigen Straße vorwärts, zwischen marschierenden Soldaten und Motorradordonnanzen, Lkw-Kolonnen und von Pferden gezogener Artillerie. Sie durchfahren ein graues Ruinenfeld. Nachdem sie das von Splittern zerfurchte Menin-Tor passiert haben, fahren sie nach Portijze, wo sie den Wagen abstellen und zu Fuß weitergehen. Sicherheitshalber. Die vordersten Linien sind nur wenige Kilometer entfernt.
    Cushing ist bestürzt. Nicht nur über den ganzen Unflat, der überall im schmierigen Schlamm verstreut liegt – «tote Pferde, kaputte Panzerwagen, abgestürzte und zusammengefaltete Flugzeuge, Pulvereimer, Granaten, Granatwerfer, Bomben, zerstörte oder verlassene Wagen, Stacheldraht» –, sondern auch darüber, dass der Ort in gewisser Weise seinen Erwartungen entspricht. Es sieht tatsächlich aus wie auf den Fotos.
    Die Straße nach Zonnebeke hinauf drängen sich lehmverschmutzte kanadische Soldaten mit

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