Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
Lastautos, Kanonen und Mauleseln, die mit Munition bepackt sind. Am Straßenrand warten Truppen darauf, weiterziehen zu können. Die Luft ist erfüllt vom Dröhnen unzähliger Geschütze; der Lärm schwillt an und schwillt ab, schwillt ab und schwillt an – aber er verstummt nicht. Im Sonnendunst über ihnen kreisen Flugzeuge, umgeben von den flüchtigen, aquarellartigen Explosionswölkchen der Luftabwehrgeschosse. Er sieht knapp zweihundert Meter entfernt eine deutsche Granate einschlagen. Er sieht schwarze Erde aufspritzen «wie einen Geysir». Er sieht einen zweiten Granateneinschlag, diesmal noch näher. Seine Reaktion verblüfft ihn selbst:
Und der Wilde in dir bringt dich dazu, dies alles zu lieben, mit seinem ganzen Elend und der Vergeudung und aller Gefahr und aller Plackerei und all dem prachtvollen Getöse. Du spürst, dass es trotz allem dies ist, wozu Männer bestimmt sind, eher als in bequemen Sesseln zu sitzen, mit einer Zigarette und einem Whisky, der Abendzeitung oder einem Bestseller – und zu tun, als sei dieser Firnis Zivilisation und als verberge sich hinter deiner gestärkten und zugeknöpften Hemdbrust kein Barbar.
Er, der nur zu gut die Leiden und das Elend kennt, die der Krieg hervorbringt, hat plötzlich und beinahe widerwillig, in einem Augenblick des Schwindels am Rand des Abgrunds, das Gefühl, auch dessen Größe und Schönheit wahrzunehmen – oder zumindest die dunklen und verheerenden Kräfte, die die Tragödie des Krieges vorantreiben. Doch genug davon. Sie kehren nach Ypern zurück. Er sieht die Sonne hinter den gezackten Ruinenresten der mittelalterlichen Tuchhalle untergehen. Die letzten glühenden Strahlen werden von einem Beobachtungsballon aufgefangen, der für die Nacht eingeholt wird.
***
Am selben Tag notiert Florence Farmborough in ihrem Tagebuch:
Am frühen Abend wurde ein Mann gebracht, der von einer deutschen Kugel verletzt worden ist. Er erfuhr bald, dass er der einzige Soldat im Saal war, der vom Feind verwundet wurde. Er stolzierte auf und ab und fühlte sich wie ein richtiger Held unter all diesen Männern, deren Verletzungen entweder selbstverschuldet oder das Ergebnis von Unglücksfällen waren.
167.
Dienstag, 30. Oktober 1917
Paolo Monelli trinkt Grappa und wartet auf Nachrichten
Seit knapp einer Woche ist am Isonzo etwas Großes im Gang. Dem Feind ist mit einer einzigen Offensive gelungen, was die italienische Armee mit elf nicht geschafft hat: ein Durchbruch. Und sie rücken vor. Was genau geschehen ist und was im Moment gerade geschieht, wissen Monelli und die anderen an der Nordfront nicht. Sie halten eine gut befestigte Stellung und waren bis vor einigen Tagen entschlossen, den Winter in ihren neu errichteten Hütten zu verbringen. In der Höhe, in der sie sich befinden, liegt schon reichlich Schnee.
Nein, sie wissen nichts. Da weder Zeitungen noch Heeresberichte zu ihnen gelangen, schweben sie in einer Wolke der Unwissenheit, wo alles, was sie erreicht, nur Gerüchte sind, wie üblich verwirrend, widersprüchlich, phantastisch. Etwa dass die Deutschen Udine eingenommen haben. Dass 200 000 Italiener sich in Gefangenschaft begeben haben. Oder sind es 300 000? Die Stimmung ist düster. In der Offiziersmesse ist es völlig still. Monelli trinkt Grappa, um die schlimmste Hoffnungslosigkeit in Schach zu halten.
Er schreibt in sein Tagebuch:
Tragische Neuigkeiten erreichen uns von der Front im Osten. Auf dem Boden des Vaterlands trampelt der Feind. Soldaten werfen ihre Waffen fort. Hier nichts. Das Warten wird noch schlimmer durch bürokratische Dummheiten, durch Unterschriften und Rundschreiben, die Pedanterie nervöser Befehlshaber, Scherze von Vorgesetzten, die wir nicht respektieren.
168.
Donnerstag, 1. November 1917
Pál Kelemen sieht ein Infanteriebataillon von der vordersten Linie am Isonzo zurückkehren
Ein stiller, stetiger Regen fällt aus einem grauen Himmel auf einen grauen Berg. Es ist früh am Abend, und ein österreichisch-ungarisches Infanteriebataillon ist auf dem Rückmarsch, nachdem es wieder eine Zeitlang an der vordersten Linie gekämpft hat. Pál Kelemen ist dort, er sieht die Soldaten den Pfad hinuntertaumeln, der von dem Hochplateau, wo sie gelegen haben, bergab führt.
Die Offensive bei Caporetto 30 hatte den hart bedrängten österreichisch-ungarischen Verbänden am Isonzo eigentlich nur eine Atempause vor der drohenden nächsten italienischen Großoffensive verschaffen sollen. Aber
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