Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
vorderen Schützengräben an. Ob man ein paar Jagdmaschinen schicken könne, um ihn zu vertreiben? Der deutsche Pilot hat dem schlechten Flugwetter getrotzt, das die gesamte Schwadron seit zwei Tagen vom Fliegen abhält und sie jetzt dazu verlockt hat, die triste Warterei in den Baracken des Flugplatzes aufzugeben und nach De Panne zu fahren, um sich zu amüsieren.
Im dortigen Krankenhaustheater tritt nämlich Libeau mit seiner berühmten Artistentruppe auf. Die Truppe ist mit ihren Theater- und Musikvorstellungen auf Tournee hinter der Front und zieht oft tausend oder mehr Besucher an – die meisten von ihnen französisches oder belgisches Militär, darunter viele Rekonvaleszenten, die Abwechslung und Zerstreuung suchen. Zwei der Männer klettern aus den Autos, laufen schnell zum Umziehen. Die Übrigen fahren wie geplant zum Krankenhaustheater in De Panne, auf dem inzwischen bekannten Weg mit seinen Birkenalleen. Sie sehen noch, wie die erste Maschine in den grauen Himmel aufsteigt. Es ist Verhoustraeten – Coppens erkennt ihn an der eigenwilligen Art, wie er seine Maschinengewehre warmschießt. Jetzt klingt es fast wie ein Gruß. Vielleicht ist es das auch.
Später am Abend, während einer Pause zwischen den Späßen, erreicht sie eine Kurzmeldung über das Telefon: Verhoustraeten ist tot. Er ist von einer Maschinengewehrkugel getroffen worden, die vom Boden abgefeuert wurde. Die Maschine ist zwischen den eigenen Linien abgestürzt. Ein kurzes Schweigen entsteht unter den jungen Männern in Uniform, aber dann geht die Unterhaltung weiter, «als sei nichts geschehen». Der Tod ist so normal, so allgegenwärtig, dass sie sich einfach nicht damit aufhalten können. Zumindest nicht, wenn sie weitermachen wollen wie bisher. 35
Doch die Verdrängung hat ihre Grenzen:
Aber später, nachdem ich die Messe mit einem lockeren «Gute Nacht, meine Herren!» verlassen hatte, ging ich an Verhoustraetens Zimmer vorbei, das neben meinem lag und das dunkel war. Dort, in der Türöffnung des unbeleuchteten Zimmers, blieb ich stehen, betroffen, denn plötzlich stand mir das ganze Drama seines Verschwindens deutlich vor Augen. Bis zu diesem Moment war mir die Tragweite der Tragödie nicht aufgegangen. Ich begann mich zu fragen, ob ein solches Opfer wirklich notwendig war, und Zweifel befielen mich.
176.
Donnerstag, 20. Dezember 1917
Pál Kelemen bewundert ein bosnisches Bataillon in Paderno
Die große Offensive bei Caporetto ist abgeschlossen. Der Winter hat begonnen, und die hartnäckigen deutschen Divisionen sind abgezogen, um ihre Infiltrationstaktik 36 an anderen Opfern zu erproben. Unterdessen sind französische und britische Verstärkungen eingetroffen, um die wankenden Italiener zu stützen. Die Front ist am Piave zum Stillstand gekommen.
An diesem Tag begegnet Pál Kelemen einem Bataillon muslimischer Bosnier. Sie gelten inzwischen ebenso wie die muslimischen Kolonialtruppen in französischen Diensten als Eliteeinheiten. Und sie werden oft in besonders schwierigen Situationen eingesetzt. Der urbane und feinsinnige Kelemen steht staunend vor diesen in mehrfachem Sinn fremden Wesen. Ihr unerklärlicher Kampfeseifer beunruhigt ihn. Was haben sie sich von diesem Krieg zu erhoffen? Bosnien ist erst 1908 von Österreich-Ungarn annektiert worden. Kelemen stellt sich vor, dass einige der älteren Bosnier damals «Widerstand gegen ebenjene Macht geleistet haben, deren zuverlässige und eifrige Soldaten sie jetzt sind». Aber er kommt dennoch nicht umhin, sie zu bewundern:
Große, magere, kräftige Krieger, die an eine seltene Zedernart erinnern, die jetzt am Aussterben ist. Sie ducken sich ein wenig, als sei es ihnen unangenehm, dass sie gewachsen und so unerschütterlich geworden sind. Beim Gehen ziehen sie den Kopf zwischen die Schultern, und ihre kleinen, tiefliegenden Augen senden durchdringende Blicke nach allen Seiten. Wenn sie sich hinsetzen, kreuzen sie die Beine unter sich, schieben den Fes auf dem Kopf zurecht und rauchen ihre langen Holzpfeifen mit einer solchen Ruhe, dass man glauben könnte, sie seien in ihr märchenumwittertes Land mit den schlanken, wunderbaren Minaretten zurückgekehrt. Fast alle sind reife Männer. Spitze Bärte umrahmen die sonnenverbrannten Gesichter. Jetzt machen sie Rast und essen. Die schäbigen Konservendosen mit Armeenahrung sehen seltsam aus in ihren gekrümmten, knochigen Fingern. Sie kauen die unbekannte Nahrung mit Bedacht und ganz offensichtlich ohne größeren
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