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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Genuss.
***
    Am selben Tag erreicht Paolo Monelli sein Ziel, die alte Festung in Salzburg, die in ein Gefangenenlager umfunktioniert worden ist. Er ist jetzt zwei Wochen lang marschiert, eingezwängt in eine Kolonne erschöpfter, demoralisierter Kriegsgefangener mit zerlumpten Uniformen und abgerissenen Orden und Dienstgradabzeichen. Zuweilen haben sich Kameraden um das Essen geprügelt, manchmal hat es Zusammenstöße gegeben, wenn bestimmte Soldaten die Auflösung der Disziplin in der Gefangenschaft ausgenutzt haben, um ihre Offiziere anzugreifen. Viele sind froh, dass der Krieg für sie nun endlich vorbei ist, und das verbergen sie nicht. Aber Monelli hat beobachtet, dass auch der Gegner, trotz seines Triumphes, mit beträchtlichen Problemen kämpft: Die österreichisch-ungarischen Soldaten, die am Straßenrand standen und die Gefangenenkolonne betrachteten, waren oft unterernährt und abgemagert. (Außerdem muss der Feind an einem erheblichen Mangel an Rekruten leiden, denn Monelli hat viele Bucklige unter ihnen gesehen, ja, sogar einen Kleinwüchsigen.) An diesem Tag beginnt für sie alle das Lagerleben, und Monelli ahnt bereits, dass es auf absehbare Zeit durch ein unablässiges Pendeln zwischen zwei Zuständen bestimmt sein wird: Langeweile und Hunger. Er schreibt in sein Tagebuch:
     
Am 20. Dezember kommen wir zur Festung in Salzburg, einer finsteren Kaserne mit hohen dicken Mauern auf dem Gipfel eines steilen Bergs, ohne Sonne, in den leeren Sälen herrscht schlotternde Kälte. In diesem nördlichen Winter, mit Nebel und Schnee um uns her, wird der Gedanke an das traditionelle Weihnachtsfest zu einer Qual. Im Rhythmus dieser Tristesse, die durch den Hunger noch bitterer wird, klopft nichts Freudiges an die Tür einer Seele, die bereits eingeschlossen ist in ihren eigenen Hass.

177.
    Freitag, 21. Dezember 1917
    Herbert Sulzbach betrachtet den schneebedeckten Chemin des Dames
     
    Acht Grad minus. Es liegt dicker Schnee, er bedeckt die Batteriestellung und die Geschütze. Die Front ist ruhig. Hier und da fallen Granaten, vereinzelt, völlig ziellos. Das ist im Moment alles. Routine. Wie das meiste. «Wir sind eine lebende Mauer, wie die da drüben auch eine sind, eine Tausende von Kilometern lange Festung, in der jeder schweigend und ganz selbstverständlich seinen Kriegsdienst tut.» So wird Tag auf Tag gestapelt, Woche auf Woche, Monat auf Monat.
    Zur Routine gehört der Besuch seines Feldwebels. Dieser kommt zweimal in der Woche zu Pferd von dem hinter der Front gelegenen Lagerplatz, um den Sold auszuzahlen oder sonstige Dinge zu regeln. Der Mann ist einer der übrig gebliebenen Veteranen von 1914, zuverlässig und gutmütig, und Sulzbach hat ihn schätzen gelernt. Sulzbach fühlt sich überhaupt sehr verbunden mit seinen Soldaten. Manchmal schleicht er zu ihnen hinüber und beobachtet sie heimlich, wie sie in den schlecht beleuchteten Schutzräumen sitzen, Mundharmonika oder Karten spielen, lesen oder sich unterhalten. Und er kehrt jedes Mal geistig gestärkt zurück, denn er spürt, dass es gute Leute sind, auf die man sich verlassen kann.
    Heute ist ein solcher Tag, an dem sein Feldwebel geritten kommt. Die Formalitäten sind rasch geklärt. Sulzbach und der Mann trennen sich. Der Feldwebel ist in bester Stimmung, als er durch den weißen Schnee davonreitet.
    Zehn Minuten später klingelt das Feldtelefon. Der Anruf kommt von einer Einheit, die ein Stück hinter ihnen liegt. Der Feldwebel ist tot. Von einer Granate getroffen. Es ist einfach, sich die Szene vorzustellen, den Kontrast der Farben.
    Auch was die Toten angeht, gibt es detaillierte Routinen, die einzuhalten sind und automatisch befolgt werden. Es wird nicht mehr viel geredet, wenn jemand gefallen ist. Sulzbachs eigene Reaktion verrät Resignation: «Ich verliere da wieder einen meiner Bravsten.» Die Soldaten aber sind erschüttert. Wieder hat es einen der Alten erwischt. Allein im letzten Jahr sind mehrere von Sulzbachs persönlichen Freunden getötet worden: Becker, bei St. Quentin, wo sie so viel Freude zusammen hatten; Lenne, der Anwalt, gestorben an seinen furchtbaren Verletzungen; von Maurig, der ehemalige Klassenkamerad, mit seinem Flugzeug abgeschossen; Zimmer, dem er im Mai begegnet war; und der fröhliche kleine Peters, auch er im Kampf gefallen. Kurt Reinhardts Vater ist ebenfalls gefallen.
    Acht Grad minus. Es liegt dicker Schnee, er bedeckt die Batteriestellung und die Geschütze. Die Front ist ruhig. Hier und da fallen

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