Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
sehen. Nach einem Marsch von knapp einer Meile kommen jedoch die ersten Schwierigkeiten.
Andrej Lobanov-Rostovskij ist auf dem Balkan, weit entfernt von seiner Heimat, als freiwilliger Angehöriger einer Einheit, die das russische Kontingent in Saloniki verstärken soll. Hinter seinem Entschluss, sich freiwillig zu melden, steckt keine Abenteuerlust. Er ist vielmehr Teil eines wohldurchdachten Plans, um wegzukommen aus Russland, wo die politische Revolution gerade in eine soziale übergeht. «Uns erwartet viel Blutvergießen und vielleicht sogar Terror.»
Wie immer hat er versucht, sich den Gang der Ereignisse über seine Lektüre zu erschließen. Im letzten halben Jahr hat er historische Literatur durchgekämmt, Bücher über Revolutionen (die französische natürlich, aber auch die von 1848) sowie über den Machtkampf zwischen Marius und Sulla im alten Rom und ähnliches. Er hat mit dem Stift in der Hand dagesessen, sich Notizen gemacht, nachgedacht, während Russland ringsherum zerfällt. Und er glaubt, eine Parallele entdeckt zu haben, in den Phasen der Französischen Revolution. Was hätte ein kluger Mensch im damaligen Frankreich getan? Er oder sie hätte das Land rechtzeitig vor der Terrorherrschaft verlassen und wäre nach dem Sturz Robespierres zurückgekehrt. Damit hätte der Betreffende die destruktive Phase übersprungen und wäre wieder aufgetaucht, als die Verhältnisse sich normalisierten. Genau das ist es, was er zu tun gedenkt. Und deshalb hat er sich als Freiwilliger an diese Front gemeldet. Die Uniform ist sein Asyl.
Saloniki war jedoch eine unangenehme Überraschung. Das lag einerseits am Anblick der niedergebrannten Stadt: «Niemals habe ich Zerstörungen solchen Ausmaßes gesehen.» Kilometer für Kilometer ausgebrannte Häuser. Die Zivilisten – Griechen, Türken, Juden, Albaner – leben «elend in Zelten oder Holzschuppen zwischen den Ruinen ihrer niedergebrannten Häuser». Und andererseits an der Stimmung in den alliierten Truppen: Ihm wurde schnell klar, dass die Moral am Boden war und «alle diese Front hassten». Kämpfe finden selten statt, aber Krankheiten, vor allem Malaria, fordern Tausende von Menschenleben. In den besseren Restaurants werden routinemäßig Schalen mit Chinintabletten neben den Salz- und Pfefferstreuer gestellt. Soldaten im Urlaub rotten sich häufig zusammen, und in den Offiziersmessen gibt es ständig Schlägereien zwischen den Offizieren verschiedener Armeen. Letzteres hat Lobanov-Rostovskij besonders schockiert. So etwas hatte er noch nie gesehen. In der Regel sind es immer die gleichen Nationalitäten, die aneinander geraten: Briten, Serben und Russen schlagen sich mit Franzosen, Italienern und Griechen. Irgendwo weit oben in den Bergen hat ein halbverrückter französischer Oberst eine kleine Republik errichtet, die Münzen in eigener Währung prägt und eigene Briefmarken druckt.
Lobanov-Rostovskijs Kalkül geht nicht auf. Die Erschütterungen der Revolution sind nämlich bis auf den Balkan zu spüren. Besonders seit sie die Nachricht erreicht hat, dass die Bolschewiken die Macht übernommen und gestern in Brest-Litowsk Verhandlungen mit den Deutschen über einen Waffenstillstand aufgenommen haben, ist die Unruhe im Bataillon noch größer geworden. Soldaten und Unteroffiziere murren, geben Widerworte, gehorchen Befehlen nur unwillig oder kommen zu spät zum Antreten. Wachen schlafen auf ihrem Posten ein. Offiziere zögern, ihren Mannschaften Munition auszuliefern. Auch auf Lobanov-Rostovskij wurde geschossen. Danach wurde er versetzt und zum Chef einer Nachrichtenkompanie ernannt.
Das ist die Kompanie, die er jetzt über den Berg zu der russischen Division führen soll, die oben am Presbasee steht. Und der einzige Weg dorthin führt über den 1800 Meter hohen Pisoderipass. Anfangs war es, wie gesagt, leicht. Aber weiter oben liegt noch Schnee, und der schmale, gewundene Weg ist mit Eis bedeckt. Lobanov-Rostovskij hört hinter sich Geschrei, und als er sich umdreht, sieht er, wie einer der von Pferden gezogenen Wagen über die Kante rutscht und in den Abgrund stürzt. Als sie das Wrack erreichen, ist eines der Pferde schon tot. Das andere muss er erschießen. Nach einer Weile nimmt die Steigung so sehr zu, dass die erschöpften Pferde keinen Halt mehr finden und die Soldaten die Wagen Meter für Meter zum Pass hinaufschieben müssen. Die siebzig Maulesel, die die Telegraphenausrüstung tragen, kommen mit den Verhältnissen besser zurecht. Aber sie
Weitere Kostenlose Bücher