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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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Das Ziel ist Brüssel. Die Stadt liegt tief im deutschen Besatzungsgebiet, über einhundert Kilometer entfernt.
    Der Sinn und Zweck des Flugs? Es gibt eigentlich keinen. Was die belgischen Generäle auch so sehen, daher haben sie solche Langstreckenflüge untersagt. Formal betrachtet ist das, was er plant, Befehlsverweigerung und könnte sehr wohl vor dem Kriegsgericht enden. Aber Coppens ist bereit, nicht nur dieses Risiko einzugehen, sondern auch ein zweites, offensichtliches, das darin besteht, so tief in feindliches Territorium einzudringen. In gewisser Weise handelt es sich nur um ein Husarenstück, mit der zusätzlichen Verlockung, etwas Gefährliches und zugleich Bemerkenswertes zu vollbringen. In der Nacht hat der Gedanke an diesen Flug ihn buchstäblich vor Erregung erzittern lassen. Der Flug ist jedoch nicht nur eine genussvolle, aber bedeutungslose Geste. Über einer Stadt, die seit dreieinhalb Jahren besetzt ist, die belgischen Farben zu zeigen, demonstriert auch Trotz und Siegeswillen – was zu einem Zeitpunkt, an dem Überdruss, Ungewissheit und Zweifel sich stärker ausbreiten denn je, sehr wohl angebracht sein kann.
    Denn wie soll dies alles enden? Nur wenige würden noch auf einen Sieg der Alliierten wetten. Sogar Optimisten rechnen damit, dass der Krieg bis ins Jahr 1919 hinein andauern wird. Die französische Armee hat sich von den Meutereien des vergangenen Jahres noch nicht vollständig erholt, die britische nicht vom Blutbad bei Passchendaele, die italienische nicht von der Katastrophe bei Caporetto. Die Amerikaner sind zwar auf dem Weg, aber es sind immer noch herzlich wenige. Und Russland, ja Russland ist im Chaos der Revolution versunken und praktisch aus dem Spiel. Auf jeden Fall kursieren Gerüchte von massiven deutschen Truppenverschiebungen, vom erlahmenden Kriegsgeschehen im Osten hin zur Front im Westen. Wann wird der Sturm losbrechen?
    In Brüssel lockt auch noch etwas anderes: Coppens’ Familie. Zwar schreiben sie sich Briefe, die über Holland gehen, er weiß also, dass alle noch leben, aber gesehen hat er sie seit 1914 nicht. Er will ganz einfach seine Heimatstadt wiedersehen.
    Kurz nach neun Uhr überfliegt Coppens bei Diksmuide die Frontlinie auf einer Höhe von 5400 Metern. Unter sich sieht er zwei französische SPAD-Maschinen, die in die entgegengesetzte Richtung fliegen. Er hat Glück. Die französischen Flieger lenken die Aufmerksamkeit der deutschen Luftabwehr auf sich. Er sieht, wie sie von Explosionswolken umringt werden. Coppens kann unbehelligt und anscheinend unbemerkt weiterfliegen. Ein gewiefter Navigator ist er nicht, also versucht er, sich wie üblich an bekannte, deutlich sichtbare Orientierungsmarken zu halten. Deshalb fliegt er nicht direkt nach Brüssel, sondern nimmt zuerst Kurs auf Brügge, dessen rote Dächer er in der Ferne erkennt. Von Brügge folgt er dann der Eisenbahnlinie, die über Gent zur Hauptstadt führt. Unmittelbar südlich von Gent widersteht Coppens der Versuchung, sich auf einen deutschen Zweisitzer zu stürzen, der unversehens rechts von ihm auftaucht.
    Jetzt kommen ihm die ersten Bedenken. Wenn er zurückblickt, kann er die eigenen Linien nicht mehr erkennen, und nach einer Weile sieht er weder Yser noch Diksmuide mehr. Er ist völlig allein. Allein in gebrechlichem Gefährt, lautet jetzt die Devise, die Coppens vorwärtstreibt. Das Gefühl der Isolation, das ihn überkommt, ist so stark, dass er aufhört zurückzuschauen und den Blick starr auf den Horizont vor sich richtet – obwohl dies natürlich die Gefahr unangenehmer Überraschungen beträchtlich erhöht.
    Über Aalst kann Coppens zum ersten Mal Brüssel erkennen. Wenn er sich vorbeugt und die Augen zusammenkneift, sieht er den großen Justizpalast, dessen kolossale Kuppel aus dem Häusergewimmel im Südteil der Stadt herausragt. Froh, aber verwirrt, beginnt er laut zu singen. Die Worte ertrinken jedoch im Motorenlärm.
    Coppens überfliegt einen Zug, der dort unten über die Schienen rattert – das erste Lebenszeichen.
    Um 9.52 Uhr liegt die Stadt unter ihm.
    Am Gare du Midi taucht er steil nach unten und schießt dicht über den Dächern dahin. In dieser Höhe und bei dieser Geschwindigkeit löst sich der Flug in eine Folge sekundenschneller Impressionen auf. Da, auf der Avenue Louise: zwei Straßenbahnen, die vor roten Häusern aneinander vorbeifahren. Dort, auf dem Markt an der Place Sainte Croix: einige Händler, die vor Begeisterung Gemüse in die Luft werfen. Dort: die

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