Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
den Angriff entstandenen Schäden inspizieren will. Eine Bombe hat auch das Materiallager des Feldlazaretts getroffen. In den Trümmern liegen zerstörte Röntgengeräte, Glasgefäße und andere Laborausrüstung herum, außerdem verschiedene Behälter mit Chemikalien. Es knirscht unter ihren Füßen, als sie hindurchgehen. Das Dach ist weggeflogen. Menschen sind nicht zu Schaden gekommen. Zumindest nicht im Lazarett. Aber ganz in der Nähe sind ein paar kleine Häuser von einer anderen Bombe getroffen worden, dort sollen sich noch Menschen in den Trümmern befinden.
Anschließend geht es zu einem Kriegsgefangenenlager in der Nähe – P.O. W. Camp Nr. 94 –, das der eifrige General ebenfalls inspizieren will. Cushing folgt ihm neugierig. Als sie dort eintreffen, sind die deutschen Gefangenen in zwei Gruppen von fünfhundert Mann außerhalb des Stacheldrahts aufgestellt. Sie werden gut behandelt, wohnen in sauberen Baracken und dürfen Pakete von zu Hause empfangen. Einige der deutschen Unteroffiziere haben sich neue Uniformen schicken lassen, die sie sonntags tragen, mit Orden und allem. Sie halten trotz der Gefangenschaft die militärischen Formen aufrecht. Den ganzen Besuch über hört man das Geräusch von Hacken, die zusammengeschlagen werden. Cushing ist dennoch wenig beeindruckt. Denn auch wenn die Gefangenen anscheinend gut genährt sind, kommen sie ihm klein vor, sogar noch kleiner als die in der Regel kleinen britischen Soldaten, und er bemerkt, dass es «unter ihnen nur wenige intelligente Gesichter gibt».
Auch der britische General legt großen Wert auf Formen. Er visitiert die beiden Gruppen, geht von Mann zu Mann. Der General moniert, dass einige der Deutschen große, schlecht sitzende Mäntel tragen, und raunzt einen Gefangenen an, der seine Hose mit einem blauen Stück Stoff geflickt hat. Auf dem Abfallhaufen findet er Kartoffelschalen, die man hätte essen können, und einen Fleischknochen, der in eine Suppe gehört hätte. Als die Visitation beendet ist, defilieren die Gefangenen in Viererreihen an dem britischen General vorbei, mit exakten Stechschritten – klassischer preußischer Marsch.
Am Nachmittag ist Cushing wieder in der großen Strandvilla, in der sie jetzt wohnen. Durchs offene Fenster strömt die warme Frühlingsluft herein. Er blickt über den englischen Kanal und sieht drei Zerstörer mit Kurs nach Süden. Einige «mit absurder Tarnfarbe bemalte Transportschiffe» liegen dicht an Land vor Anker. Cushing sieht zahlreiche Fischerboote, die auf Wind warten. Es ist Ebbe. Auf dem trocken gefallenen Sandstrand unterhalb ihrer Villa spazieren die Menschen und genießen die warme Sonne, suchen Muscheln.
Cushing ist rastlos. Die große deutsche Offensive rollt weiter. Sie ist in erster Linie gegen die 5. Armee der Briten gerichtet, die sich von den Verlusten in der dritten Schlacht bei Ypern im Herbst noch nicht erholt hat. Die Berichte sind wie üblich widersprüchlich, die Zensur ist streng, Gerüchte florieren. Die Briten scheinen jedoch auf dem Rückzug. Das Lazarett hat fast keine Verwundeten hereinbekommen – ein schlechtes Zeichen. Offenbar rücken die Deutschen so schnell vor, dass die Briten kaum Zeit haben, ihre Verwundeten zu evakuieren. In Paris fallen Granaten, die von einer Art Riesenkanone abgefeuert werden. Cushing und seine Leute haben keine neuen Befehle erhalten. Sie können nur «in der Sonne sitzen, am Strand spazieren gehen – und warten. Das ist das Schwerste.» Er schaut aus dem Fenster, hinab auf die Strandpromenade. Er sieht einige Offiziere auf einer Bank sitzen und mit einem Kind spielen.
192.
Mittwoch, 27. März 1918
Edward Mousley feiert seinen Geburtstag in einem Gefängnis in Konstantinopel
Die letzten Monate waren abwechslungsreich. Nach seiner Überführung nach Konstantinopel unternahm Edward Mousley am Weihnachtstag einen Fluchtversuch. Es fing vielversprechend an. Er und seine Kameraden schafften es, gut vorbereitet und mit dem ein oder anderen Bluff, auf einem zuvor ausgespähten Fluchtweg bis hinunter zur Galatabrücke. Mit einem Boot, das ihnen ein Helfer besorgt hatte, fuhren sie aufs Marmarameer hinaus. Das Boot war mit Eiern beladen, die als Reiseproviant vorgesehen waren, aber es fehlte an wichtigen Ausrüstungsteilen, vor allem einem Schöpfgefäß. Außerdem wehte ein ruppiger Wind, die See ging hoch, und die Strömung war stark. Das Segel streikte, und bald wurde der ganze Fluchtversuch zur Farce. Von Kopf bis Fuß mit
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