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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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ein uralter Zwerg, schon hundert Jahre tot.»
    Während sie dort steht und den Körper betrachtet, ist plötzlich ein Geräusch zu hören. Es klingt wie ein schwaches Brummen, mal lauter, mal leiser, dann stumm. Erstaunt beugt Elfriede sich vor. Sie schaut, lauscht, und begreift zu ihrem Entsetzen, dass das Geräusch von dem toten Jungen stammt. Wenn er nun wieder zum Leben erwacht ist? Der Ton könnte seinen kleinen Lungen entweichen. Sie beugt sich noch weiter vor, und ja, es kommt aus seinem halb geöffneten Mund. Er versucht zu atmen!
    Sie nimmt sich ein Herz, zieht die Kiefer des Jungen auseinander, um ihm Luft zu verschaffen. Und zuckt sofort zurück. Aus dem Mund des Jungen kriecht eine große Schmeißfliege.
    Elfriede verscheucht sie, voller Ekel. Dann spannt sie wieder das Netz um das Bett, dicht, sehr dicht.

210.
    Samstag, 24. August 1918
    Harvey Cushing mustert erstarrte Hände in Salins
     
    Es hat fast den ganzen Tag geregnet. Die Fahrt bergauf ist lang und mühselig, aber sie ist die Anstrengung wert. Die Aussicht ist hinreißend, und die Landschaft nicht weniger – ganz unberührt vom Krieg. Cushing ist Mitglied einer kleinen Delegation, die die Neurologische Station Nr.   42 besucht, die in der alten Bergfestung in Salins untergebracht ist, südlich von Besançon.
    Er ist aus rein professionellen Gründen hier. Dies ist, wie der Name sagt, eines der vielen neurologischen Krankenhäuser der Armee, und es hat sich auf einen bestimmten Typ von neurologischem Schaden spezialisiert: erstarrte Hände und gelähmte Füße. Besonders die erstgenannten interessieren Cushing. Alle Militärärzte kennen das Phänomen: Männer, deren Hände in einer Art Dauerkrampf erstarrt sind, nicht selten in unmöglichen Stellungen zum Unterarm verdreht. Origami der Muskeln. Eine eigentliche Verletzung ist an den befallenen Gliedmaßen nicht zu finden. Sie sind gleichsam nur in einem scheinbar unmöglichen Winkel festgefroren. Cushing ist verblüfft über die Variationen. Die französischen Ärzte haben sogar eine Typologie entwickelt: main d’accoucheur, main en bénitier, main en coup de poing und so weiter.
    Oft tritt das Leiden nach einer längeren Zeit in Bandagen oder im Streckverband auf. Oft findet sich aber auch eine andere, wohlbekannte Ursache: Nicht selten sind Männer betroffen, die sich im Kampf eine kleine, zuweilen triviale Verletzung zugezogen haben. Sie sind, bewusst oder unbewusst, der Meinung, die Wunde sei irgendwie zu unbedeutend, und gleichzeitig haben sie Angst, zur Front zurückgeschickt zu werden.
    Die Behandlung besteht ausschließlich aus Psychotherapie, und sie wird von einem Hauptmann namens Boisseau durchgeführt. Er ist sehr geschickt. Cushing beobachtet voller Erstaunen, wie Boisseau sich eines neu eingetroffenen «Selbstdeformierten» annimmt und den Mann vorsichtig, mit Worten, aus seiner Lähmung herauswindet. In einem Zimmer ist eine kleine Ausstellung von Stöcken und Krücken, Korsetts und Stützschienen zu sehen, die von ehemaligen Patienten benutzt wurden.
    Die Behandlungsmethode indes ist nicht hundertprozentig erfolgreich. Im Dorf am Fuße des Berges liegt eine Kaserne, in die die Gesundgeschriebenen geschickt werden. Dort teilt man sie in drei Gruppen ein: a) vollständig geheilt und für den Dienst an der Front geeignet, b) unklare Fälle, c) chronische Fälle. Cushing und die anderen sehen die erste Gruppe vorbeimarschieren, in voller Kampfausrüstung. Dort entdeckt einer der französischen Nervenärzte einen Rückfall – der Mann wird sofort aus dem Glied genommen und zur Neurologischen Station Nr.   42 zurückgeschickt, wo ihn drei Tage in Isolation erwarten, bevor die Therapie erneut beginnt: «Eine Psyche, die kämpft, um die Kontrolle über eine andere zu gewinnen, die jedoch gute Gründe hat, sich zu widersetzen.»
    In strömendem Regen fahren sie zurück nach Besançon. Später lädt sie einer ihrer Führer zum Souper ein.

211.
    Sonntag, 1. September 1918
    Willy Coppens liegt erkältet in Les Moëres
     
    Der warme August ist vorbei. Es war ein ereignisreicher Monat. Coppens’ Liste verzeichnet sechs neue Siege. Sämtliche Abschüsse sind deutsche Beobachtungsballons, seine Spezialität. (Seit dem Jahreswechsel hat er siebenundzwanzig Siege errungen.) Er hat die Gefahren kennengelernt: Seine Maschine wurde mehrmals durchsiebt, entweder von Kugeln oder von Granatsplittern (die Risse werden mit weißen Streifen ausgebessert, die sich gegen das leuchtende Hellblau

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