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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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ist. Ersatz: Scheinprodukte für eine Scheinwelt.
    Elfriede Kuhr arbeitet in einem Kinderkrankenhaus in Schneidemühl. Es hat eine Weile gedauert, bis sie sich an die Arbeit dort gewöhnt hat, daran, den Ekel beim Anblick von Blut oder Eiter, wund gelegenen Stellen oder Schädeln, die mit Schorf bedeckt sind, zu unterdrücken. Fast alle Kinder leiden an Unterernährung oder an einer Krankheit, die irgendwie auf Unterernährung zurückzuführen ist. (Die Unterernährung ist zum Teil auf die wirksame britische Blockade Deutschlands zurückzuführen, zum Teil darauf, dass Deutschlands Landwirtschaft und das hiesige Transportsystem durch die heftigen Kriegsanstrengungen mehr und mehr verschleißen – wo es noch Lebensmittel gibt, gibt es keine Züge, um sie zu transportieren.) Diese Kinder sind natürlich ebenso sehr Kriegsopfer wie die Gefallenen an der Front. Oder die Kinder, die mit der Lusitania untergegangen und ertrunken sind. Im Laufe der letzten Jahre hat sich die Kindersterblichkeit in Deutschland verdoppelt.  26
    Viele der Kleinen sind von jungen, verzweifelten Soldatenfrauen eingeliefert worden. Elfriede schreibt:
     
Oh, diese Babys! Haut und Knochen. Kleine Hungerleichen. Und die Augen so groß! Wenn sie weinen, klingt es wie leises Quäken. Ein kleiner Junge wird bestimmt bald sterben. Er hat ein Gesicht wie eine vertrocknete Mumie; der Arzt spritzt ihm Kochsalzlösung ein. Wenn ich mich über das Bett beuge, guckt mich der Kleine aus riesigen Augen wie ein alter, kluger Mann an; dabei ist er erst sechs Monate alt. Ganz deutlich steht eine Frage in seinen Augen, eigentlich ein Vorwurf.
     
    Wenn sie kann, stiehlt sie echte Windeln, damit dem Jungen dieses entsetzliche Zeug aus Papier erspart bleibt.
    Elfriede steht um sechs Uhr morgens auf, beginnt eine Stunde später zu arbeiten und ist um sechs Uhr abends fertig. Ihr Bruder Willi ist jetzt als einfacher Soldat zur Fliegertruppe einberufen worden. Er ist noch in der Ausbildung. Als sie ihn nach dem Einrücken beobachtete, fand sie, dass er in seiner Uniform und mit dem seltsamen Lackhut auf dem Kopf furchtbar aussah; am schlimmsten war aber, ihn in Hab-acht-Stellung zu sehen, steif, ganz still, die Hände an die Hosennaht gepresst, den Blick in weite Ferne gerichtet. Genauso wie damals, als sie Leutnant von Yellenic spielte, nur in echt, viel besser – und viel, viel schlimmer. Elfriede hat Willi zuletzt vor vierzehn Tagen gesehen, an seinem Geburtstag. Da hat er zweimal zu ihr gesagt: «Es kracht im Gebälk.»

208.
    Dienstag, 6. August 1918
    Pál Kelemen begegnet in Arlon einigen amerikanischen Kriegsgefangenen
     
    Er wohnt bequem in einem zweistöckigen Haus und hat ein eigenes Schlafzimmer, ein eigenes Wohnzimmer und einen Eingang für sich allein. Es sieht fast aus wie eine Ferienwohnung. Aber wer sollte in diesem Teil Belgiens Ferien machen? Als symbolische Geste der Solidarität und Dankbarkeit  27 hat die österreichisch-ungarische Armee vier Divisionen an die Westfront geschickt – mit einigen ihrer berühmten 30,5-cm-Mörser. Zu einer der Divisionen gehört also Pál Kelemen. Die Bahnreise hat acht Tage gedauert, von Friaul über die leeren Schlachtfelder am Isonzo, nach Österreich hinauf («Städte, Kultur, Frauen, aber überall die tausendfachen Anzeichen von Kriegsmüdigkeit»), durch Deutschland (wo er das schwer bombardierte und von Panik befallene Metz sieht), an Luxemburg vorbei und über die Grenze nach Belgien, in die kleine Stadt Arlon. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, lag der Ort unter heftigem Artilleriebeschuss. Er bekam Angst.
    Arlon ist jetzt seit vier Jahren besetzt. Die deutschen Besatzer haben ihr Bestes gegeben, um der Stadt eine Art Normalität aufzuzwingen, aber vergeblich. Geschäfte, Restaurants und Hotels sind zwar wie früher geöffnet, aber jeder kann sehen, dass das Leben alles andere als normal ist, selbst wenn man von den Kriegshandlungen absieht: den Bomben aus den Flugzeugen und den Granaten, die, von Geschützen mit großer Reichweite abgefeuert, hier und dort einschlagen und wahllos Deutsche wie Belgier töten. Erstens ist die Stadt ab Punkt acht Uhr abends wie verlassen. Das Ausgehverbot wird mit preußischer Strenge durchgesetzt, und mit der Verdunkelung nimmt man es sehr genau; man ist hier so weit wie nur möglich entfernt von der so charmanten österreichischen Sorglosigkeit. Nein, es wird eiserne Disziplin gehalten. Zweitens gibt es hier praktisch keine Männer, außer den sehr alten und den sehr

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