Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)
aus Erfahrung, dass in solchen Fällen immer der tiefer liegende Ballon zuerst angegriffen wird. Denn sobald man eine «Wurst» attackiert, beginnen die Leute am Boden, sie einzuholen, und da die Deutschen dafür jetzt Motorwinschen einsetzen, kann das ziemlich schnell gehen. Wenn ein Beobachtungsballon tief genug herabgezogen ist, hat die Luftabwehr es leichter, den Angreifer zu treffen – und ein Angriff wäre nahezu Selbstmord. (So gilt etwa für britische Piloten die Faustregel, nie einen Ballon anzugreifen, der sich in dreihundert Meter Höhe oder darunter befindet.)
Hage ist unerfahren und übereifrig. Coppens steuert den Ballon über Thourout an, aber Hage legt sich vor Coppens’ Maschine und zwingt ihn so, den Ballon über Praet-Bosch anzugreifen.
Um 6.00 Uhr feuert Coppens eine erste kurze Salve. Er sieht, dass die Hülle des Ballons Feuer fängt, und dreht deshalb ab, um sich Ballon Nummer zwei vorzunehmen. Hage hat jedoch nicht gesehen, dass der Ballon Feuer fing, denn das Feuer breitet sich in der kalten und feuchten Luft nur langsam aus. Er kehrt also noch einmal um, um einen zweiten Angriff zu fliegen. Coppens zögert. Aus dem Augenwinkel sieht er, dass man angefangen hat, den Thourout-Ballon einzuholen, im anderen erkennt er einige Flugzeuge, die er nicht identifizieren kann. Können es Feinde sein? Er kann Hage nicht allein lassen, also fliegt er zurück, gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass der Praet-Bosch-Ballon in Flammen aufgegangen ist und zur Erde trudelt.
Jetzt fliegen beide den Thourout-Ballon an.
Der Ballon befindet sich in raschem Tempo auf dem Weg nach unten. Als sie ihn erreichen, ist er schon unterhalb der gefährlichen 300-Meter-Grenze.
Coppens fliegt durch einen Schauer detonierender Luftabwehrgranaten und Leuchtspurmunition. Er ist so tief unten, dass er das «wütende Gebell» der Maschinengewehre hören kann, ein Geräusch, dass sonst bei Luftkämpfen stets vom Motorenlärm übertönt wird.
Nach wenigen Augenblicken, um 6.05 Uhr, ist er so nah dran, dass er das Feuer eröffnen kann. Kurz darauf spürt er einen heftigen Schlag gegen sein linkes Bein. Eine glühende Welle von Schmerz strömt durch seinen Körper. Der Schock ist so stark, dass sich sein rechtes Bein ganz unfreiwillig streckt, sodass das Ruderpedal bis unten durchgetreten wird und die Maschine ins Trudeln gerät. Erde und Himmel purzeln durcheinander, wieder und wieder. Gleichzeitig verkrampft sich seine Hand um den Auslöser am Steuerknüppel. Kugeln spritzen um die taumelnde, krängende Maschine.
Der Krampf lässt etwas nach. Mit Mühe gelingt es Coppens, die Maschine aus der abwärts führenden Spiralbewegung zu reißen. Sein linkes Bein gehorcht ihm nicht mehr, es hängt leblos herab – er spürt bloß, wie das Blut herausspritzt. (Später erfährt er, dass ein Leuchtspurgeschoss durch den Boden des Cockpits gedrungen ist und seinen Unterschenkel getroffen, die Muskeln zerfetzt und das Schienbein sowie die Arterie durchschlagen hat.) Mit dem rechten Fuß kann er jedoch die miteinander verbundenen Ruderpedale immer noch manövrieren.
Coppens hat jetzt nur zwei Dinge im Kopf. Das eine: Er muss die eigenen Linien erreichen; er will nicht in Gefangenschaft geraten. Das Zweite: Er darf nicht das Bewusstsein verlieren; denn dann würde er abstürzen.
Schwindelig vor Schmerz und Blutverlust reißt er sich zuerst die Fliegerbrille und den Lederhelm herunter – die er in seine Jacke stopft – und dann den Seidenschal, den er sich als Kälteschutz vors Gesicht gebunden hat. Denn genau das braucht er jetzt: Kälte. Um wach zu bleiben.
Er schafft es.
Nachdem er die belgische Frontlinie überflogen hat, macht er auf einem Feld neben einer Straße eine Bruchlandung. Soldaten stürmen herbei, um ihm zu helfen. Sie befreien ihn aus dem blutverschmierten Cockpit und reißen dabei die Maschine buchstäblich in Stücke.
Mit zwei verwundeten Soldaten wird Coppens in einem Sanitätswagen ins Krankenhaus nach De Panne gefahren. Vom Blutverlust geschwächt und von den Schmerzen immer heftiger geplagt, hat Coppens das Gefühl, dass die Fahrt kein Ende nimmt. Er kennt die Straße, unzählige Male sind er und die anderen hier gefahren, zu verschiedenen Vergnügungen in De Panne. So liegt er da in dem fensterlosen Sanitätsfahrzeug und versucht auszurechnen, wo sie sich befinden, wie lange sie noch brauchen.
Um 10.15 Uhr bremst der Wagen vor dem Hôpital de l’Océan. Er hört den Fahrer rufen, dass der berühmte Pilot
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