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Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition)

Titel: Schönheit und Schrecken: Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Englund
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entschlossen, dort das Kriegsende abzuwarten. Monelli aber bringen die Kleinigkeiten und die Tristesse fast um. Er fühlt sich in einem ewigen, unveränderlichen, abscheulichen Jetzt eingesperrt. Monelli ist sechsundzwanzig Jahre alt, und es kommt ihm so vor, als ginge seine Jugend verloren. Vielleicht ist es schon geschehen. Er gibt sich Tagträumen und Erinnerungen hin, verspürt große Sehnsucht, stellt sich Bilder eines Lebens in Friedenszeiten vor, Alltäglichkeiten, die jetzt unmöglich sind, geradezu unglaublich erscheinen, wie mit frisch geputzten Schuhen auf einem Bürgersteig zu gehen, oder mit weiblichen Bekanntschaften in einem Café Tee zu trinken. Er denkt viel an Frauen. Unter den Gefangenen herrscht ein hoher Grad an sexueller Frustration. Das Essen ist schlecht und knapp. Der Hunger liegt stets auf der Lauer.  25
    Monelli befindet sich jetzt in Hart. Es ist sein drittes Lager. Sie wohnen in langen Baracken, die in der heißen Sommersonne stickig und voller Fliegen sind. Jenseits des Stacheldrahtzauns blicken sie auf ein ländliches Idyll, das nach frisch gemähtem Heu duftet, und irgendwo hinter den blaugrünen Bergen am Horizont liegt Italien. Monelli schreibt:
     
Und heute ist wie gestern. Nichts verändert sich. Heute wie gestern, wie morgen. Der morgendliche Appell in den düsteren Schlafsälen, die abendliche Inspektion, um zu kontrollieren, dass alles dunkel ist. In dieser Klammer ein sinnloses Dahinleben, wo man aufgehört hat, an die Zukunft zu denken, weil man sie nicht mehr zu erforschen wagt, ein Leben, das gleichförmig hin und her baumelt, festgehakt an ein paar unveränderlichen, frustrierenden Erinnerungen.
Das Stampfen und Trampeln in den unendlichen Gängen der miteinander verbundenen Baracken, wo das Licht durch ein Dachfenster fällt, und wo einen zuweilen ein Albtraum heimsucht, dass wir schon tot und begraben sind, dass wir nur rastlose Leichen sind, die ihre Gräber verlassen haben, um auf den Spazierhöfen mit den anderen Dahingeschiedenen einen Plausch zu halten. Hass auf die Kameraden, deren intimer Freund zu werden die Österreicher dich gezwungen haben, die menschlichen Ausdünstungen, ein entsetzlicher Gestank von fünfhundert Eingesperrten, ein ausgehungerter egoistischer Haufen, zwanzigjährige Körper, verdammt zu Untätigkeit und Onanie. Und ich glaube nicht, dass ich besser bin als sie, auch wenn ich hier und da ein Körnchen Weisheit von mir gebe, und ein lebhaftes Gespräch mit Freunden über vergangene Kämpfe mich in der täglichen Erniedrigung noch trösten kann.
Auch ich habe Schach spielen gelernt; auch ich drücke mich zuweilen an das rechteckige Muster des Stacheldrahtzauns, um meiner Gier nach vorbeigehenden Frauen Ausdruck zu verleihen; auch ich gebe widerwillig mein Kilo Reis für die gemeinsame Mahlzeit heraus, als wäre es ein obligatorischer Beitrag. Und wer weiß, ob nicht auch ich mich so weit erniedrige, von meinem Kameraden jenes pornographische Buch auszuleihen.

207.
    Sonntag, 28. Juli 1918
    Elfriede Kuhr arbeitet im Säuglingsheim in Schneidemühl
     
    Sie tun ihr Bestes. Wenn die Kleinkinder ihre Milch nicht bekommen können, geben sie ihnen gekochten Reis oder Haferbrei oder nur Tee. Und wenn es nicht genug echte Windeln gibt, benutzen sie eine neue Sorte, aus Papier. Das Papier klebt an der Haut der Kinder fest, es tut weh, wenn die Pflegerinnen es abziehen.
    Ersatz überall. Ersatzkaffee, falsches Aluminium, imitiertes Gummi, Verbände aus Papier, Knöpfe aus Holz. Der Erfindungsreichtum ist zwar beeindruckend, aber vom Resultat kann man das nicht behaupten: Stoff, der aus Nesselfasern und Zellulose besteht; Brot aus Getreide, das mit Kartoffeln, Bohnen, Erbsen, Buchweizen und Rosskastanien vermischt ist (und das erst ein paar Tage nach dem Backen wirklich genießbar erscheint); Kakao, der aus gerösteten Erbsen und Roggen unter Zusatz chemischer Geschmacksstoffe besteht; Fleisch, das aus gepresstem Reis gemacht ist, der in Schaftalg gekocht wurde (abgerundet durch einen Scheinknochen aus Holz); Tabak aus getrockneten Wurzeln und Kartoffelschalen, Schuhsohlen aus Holz. Es gibt 837 zugelassene Fleischersatzpräparate für die Wurstherstellung, 511 registrierte Ersatzprodukte für Kaffee. Münzen aus Nickel sind ersetzt worden durch Münzen aus Eisen, Pfannen aus Eisen durch Pfannen aus Blech, Dächer aus Kupfer durch Dächer aus Blech, und die Welt von 1914 wird ersetzt durch die Welt von 1918, in der alles etwas dünner, hohler, kleiner

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